Meine Mitbewohnerin war so freundlich gewesen, mich mitzunehmen. Auf ihrem Weg in die Heimat wollte sie mich in meiner eigenen Heimat absetzen: bei McDonalds an der B100.
Nun ja, nicht ganz. Um ihr zu ersparen, in die Hallenser Innenstadt hineinfahren und sich dem dortigen Trubel aussetzen zu müssen, hatte ich mit meinem Bruder vereinbart, er möge mich doch von der autobahnnahen McDonalds-Filiale abholen.
„Kein Problem.“, meinte er, „Gib mir nur Bescheid, kurz bevor du da bist.“
Das wiederum war ein Problem, hatte doch mein Handyguthaben vor kurzem beschlossen, bei 0,00 Euro zu landen, weswegen ich – einem Telefonierbedürfnis folgend – auch noch mein Alternativguthaben auf selbigen Niedrigststand senkte und somit dafür sorgte, daß ich mit unnützem Mobilfunktelefon bewaffnet vor dem McDonalds saß und wartete.
Aus dem Auto heraus hatte ich meinen Bruder anrufen wollen – mit den Handy meiner Mitbewohnerin natürlich. Leider mißglückte dies, da er die Annahme des Telefongesprächs verweigerte und mich zum Schreiben einer Kurznachricht nötigte, die meine Ankunft in wenigen Minuten ankündigte.
Und so ging ich, sobald meine Mitbewohnerin mich abgesetzt und verabschiedet hatte, zu McDonalds, um mir eine wenig leckere, aber immerhin vorübergehend sättigende Mahlzeit zu erwerben – natürlich im praktischen Mitnahme-Beutel, um mich draußen auf dem Fahrradständer [oder wasimmer das geringelte Metallding, auf dem ich saß, darstellen sollte] zu positionieren und beste Sicht auf ankommende [und abfahrende] Automobile zu haben.
Ich aß, zügelte meine Ungeduld, schaute nicht auf die Uhr. Erst als mein Pappbecherinhalt zur Neige ging, hielt ich es nicht mehr aus und blickte auf mein nutzloses Handy: Er war schon eine halbe Stunde zu spät.
Ich spürte, daß etwas nicht stimmen konnte, war er doch – im Gegensatz zu mir – nicht der Unpünktlichkeit verfallen. Ein Mobiltelefon mußte her, ein funktionstüchtiges, sofort.
Auf dem Metallringelding, das als Fahrradständer ich zu bezeichnen mich eben erdreistete, saß nicht nur ich, auch eine junge Dame hatte sich dort plaziert und frönte ihrer zunehmenden Ungeduld, ihr Handy mit der rechten Hand umschlossen.
„Hallo.“, sprach ich sie an, „Könnte ich eventuell mit deinem Telefon meinen Bruder anrufen? Dauert nicht lange. Ich bezahl dir das Gespräch auch.“
Ich hatte vorsorglich schon ein paar Münzen aus meinem Portemonaie herausgekramt und in meiner Hosentasche verstaut.
„Kein Problem.“, meinte sie, und ihre Sorgenfalten glätteten sich ein wenig, „Nur der Akku ist fast leer. Aber wenn du dich beeilst…“
„Ich beeile mich“, versprach ich, gab die Nummer ein, informierte meinen Bruder, der keine Kurznachricht erhalten hatte, aber mit versicherte, sich sofort auf dem Weg zu machen.
„Immer mit der Ruhe.“, meinte ich, hatte ich doch jemanden gefunden, mit dem ich die Zeit überbrücken konnte.
„Vielen Dank“, sagte ich, lächelte und gab ihr das Telefon zurück.
„Kein Problem.“, meinte sie erneut und winkte ab, als ich Geld aus der Tasche zaubern wollte.
„Kannst du zwei Minuten auf meinen Koffer aufpassen?“, fragte sie mich, und zum ersten Mal nahm ich ihren leichten Akzent wahr. Russisch vielleicht.
„Klar.“
„Ich muß nur kurz aufs Klo…“, meinte sie noch und eilte in Richtung McDonalds.
Ich wunderte mich. Sie hatte, während ich gegessen hatte, schon mehrere Minuten neben ihr, ich neben ihr, gesessen, ohne daß auch nur ein Wort gefallen war. Warum? Warum ist es so schwer, einen Anfang zu machen, einfach irgendetwas einigermaßen Sinnvolles zu sagen, daß eine kleine Brücke baut?
Weil mich andere Menschen nicht interessieren? Das kann es nicht sein. Weil ich zu schüchtern bin? Vielleicht. Aber irgendwie wäre auch das ziemlich albern.
Ich fühlte mich wie ein Teenager. Schrecklich.
Doch zugleich war ich froh, einen Grund bekommen, einen Anfang gefunden zu haben, so daß ich ihr, sobald sie zurückkehrte, meine kleine Geschichte erzählte, warum ich wartete, und daraufhin die ihre vernahm:
Sie studierte in Halle, kam aber aus Berlin, wo sie seit dem 13. Lebensjahr wohnte. Eigentlich stammte sie aus Kasachstan, wenngleich Vorfahren von ihr wiederum aus Deutschland stammten. Und nun wartete sie auf einen „weißen Kastenwagen“ [wasauchimmer sie sich darunter vorstellen sollte] aus Bayreuth, der sie mit nach Lüneburg [?] bringen sollte.
Ein durchaus interessantes Gespräch entwickelte sich, und ich freute mich, sie getroffen zu haben. Dann kam mein Bruder angekurvt, die Musik laut aufgedreht. Ich verabschiedete mich, ohne ihren Namen erfahren zu haben; sie winkte, als wir von dannen brausten. Ich lächelte.
„Kanntest du die?“, fragte mein Bruder.
„Nein.“, meinte ich. „Sie wartete auch auf jemanden.“
„Ach so.“
„Mit ihren Handy habe ich doch angerufen.“
„Ach so.“
Nach einer Weile meinte er noch:
„Guter Trick übrigens. Sollte man sich aufschreiben. Schließlich habe ich jetzt ihre Nummer.
Kannst sie übrigens haben, wenn du willst.“
Ich grinste nur.