Herr Schmidt

Zu einer Zeit, in der ich mich mit der Überlegung beschäftigte, ob ich denn nicht, wenn ich einmal groß wäre, zum Lehrer tauge und ob Biologie und Chemie nicht geeignete Fächer wären, um deren Inhalte an Schüler weiterzugeben, wurde meine Klasse von einem Lehrer unterrichtet, der auf den gewöhnlichsten aller Nachnamen hörte: Herr Schmidt.
Da ich noch längst nicht in der siebenten Klassenstufe weilte, demnach auch noch nicht die Inhalte der Chemiestunden vermittelt bekommen hatte, richtete ich mein Augenmerk auf die Biologie, also auf das Fach, das Herr Schmidt uns beizubringen versuchte.

Herr Schmidt war ein seltsamer Kerl. Ich kann mich nicht erinnern, daß er jemals etwas anderes trug als ausgewaschene Jeans und seinen Aktenkoffer mit der dreistelligen Zahlenkombination. Herr Schmidt hatte einen fettigen Seitenscheitel, den er abgöttisch zu lieben schien, der ihn aber – das war selbst mir Geschmacksunkundigen damals schon bewußt – entstellte, insbesondere weil sich zu ihm eine Art Mähne gesellte, also Haare, die ihm hinten in den Kragen wuchsen und äußerst unmodern wirkten.

Herr Schmidt trug keine Brille, wie es das Lehrerklischee forderte. Diese hätte auch schlecht in sein affenartiges Gesicht gepaßt, das – wenn ich heute darüber nachdenke – bar jeden Intelligenzfunkens zu sein schien. Dabei war Herr Schmidt nicht dumm, keineswegs, wußte er doch bestens über seine Fächer Bescheid, gab uns eine Information nach der andern kund, die wir niederzuschreiben und in Kurzkontrollen und Klausuren zu wiederholen hatten.

Einmal machte Bianca den verzeihlichen Fehler, in einer Definition statt „Organismus“ „Orgasmus“ zu schreiben und erheiterte Herrn Schmidt somit maßlos. Ich kann mich nicht erinnern, den Grund für sein Gelächter damals verstanden zu haben, doch begriff ich, daß es etwas mit dem Geheimnis seines Aktenkoffers zu tun haben mußte.
Der Aktenkoffer stand nämlich niemals auf; nur manchmal klackte Herr Schmidt zweifach an den Verschlüssen und öffnete ihn, natürlich so, daß niemandem aus der Klasse Einsicht in das mysteriöse Innere gewährt wurde. Niemandem, außer demjenigen, der dem Lehrertisch am nächsten, in der ersten Reihe, saß und der, sobald Herr Schmidt den Blick abwandte, heimlich in das Kofferinnere lugte.

Der heimlich Einblick Suchende war ich, und ich war es auch, der nicht verstand, warum Herr Schmidt sich überhaupt die Mühe machte, täglich seinen Aktenkoffer durch die Gegend zu tragen, fanden sich in ihm doch nur ein oder zwei Hefter, ein paar Schreibgegenstände und eine Zeitschrift. Das allein forderte keinen Aktenkoffer, aber vielleicht glaubte Herr Schmidt, mit einem solchen Koffer wichtig und lehrerhaft auszusehen. Ihm fehlte schließlich die Klischee-Brille.
In unseren Augen jedoch erschien Herr Schmidt eher skurril und albern.

Ich war es übrigens auch, der herausfand, welche Zeitschrift es war, die Herr Schmidt stets mit sich herumtrug, die er in dem geschlossenen Koffer vor neugierigen Augen verbarg, aber nicht vor mir geheimhalten konnte. Es war die Blitz-Illu, die vielleicht niveauloseste Schmuddelzeitschrift, die an Kiosks erwerbbar war, angefüllt mit erotischen, aber keineswegs pornographischen, Inhalten, mit Bildern leicht- oder unbekleideter Mädchen und Texten voller erfundener, unfaßbar tragischer Szenarien und Entdeckungen.

Herr Schmidt besaß vermutlich genügend Intelligenz, um die Texte für wertlos zu erachten. Sein Augenmerk galt also den Bildern – eine Information, die für uns Schüler, insbesondere uns Jungen, von hohem Wert war und für allerlei Getuschel sorgte. Allerdings nicht während seines Unterrichts, denn zuweilen wurde Herr Schmidt sehr ärgerlich und regte sich minutenlang über irgendeine, in unseren Augen unbedeutende Kleinigkeit auf.

Unsere Mädchen waren gewitzter, hatten begonnen, sich auf andere Art und Weise für Herrn Schmidt zu interessieren. Denn nach ein paar Unterrichtsstunden wurde ersichtlich, bei welchen Themen Herr Schmidt mit Vorliebe abschweifte und über Biologiefremdes zu reden begann.

So erwähnte er Charles Darwin, der mit der „Beagle“ über die Meere gefahren war und ermahnte uns, die „Beagle“ nicht mit den Beatles zu verwechseln. Das wäre uns Jungen im Traum nicht eingefallen, waren doch derart veraltete Musikgruppen kein Teil unserer Welt. Constanze und Jana jedoch inszenierten, als eines Tages eine Kurzkontrolle anstand, einen Dialog, der genau auf dieser Verwechslungsgefahr aufbaute. Herr Schmidt tapste arglos in die Falle, ließ sich nach ein paar einleitenden Worten seitens der Schüler, auf den Gedankengang ein, was wohl die Bedeutung des Wortes „Beagle“ sei. Nachdem er die Hunderasse ausgiebig erläutert hatte, sprang er über zu den Beatles, zu Elvis Presley und weiter zu anderen Themen, denen ich längst nicht mehr zuhörte. Die Stunde war gerettet, die Kurzkontrolle fiel aus, hatte dem Biologielehrer-Monolog weichen müssen.

Eine seiner Monolog-Weisheiten blieb mir bis heute im Gedächtnis und taucht immer mal wieder auf, wenn ich morgens vor dem Spiegel stehe. Damals war bei mir an ersten Flaum noch nicht zu denken, und trotzdem wies uns Herr Schmidt darauf hin, daß man möglichst spät damit beginnen sollte, sich selbst zu rasieren.
„Wenn man einmal anfängt,“, erzählte er, „wird es immer schlimmer. Zuerst rasiert man sich noch einmal die Woche, dann mehrmals und schließlich muß man sich täglich rasieren, um gesittet auszusehen. Dann gibt es kein Zurück.“ Ich glaube, Herr Schmidt haßte das Rasieren.

Wir argwöhnten, ob Herr Schmidt ein Trinker sei, und bis heute weiß ich es nicht, ja bezweifle es. Und doch zeigte er Eigenschaften, die jenen armseligen Figuren eigen war, deren Leben aus nichts als der Gemeinschaft gleichwertiger Alkoholabhängiger und flüssigem Vergessen bestand. Sein fettiger Scheitel glänzte, und hin und wieder vergaß Herr Schmidt, sich zu rasieren. Zuweilen wirkten seine Augen glasig, und seine Monologe an der Tafel wechselten ohne Zusammenhang von einer Thematik zur nächsten.

Doch er roch nicht – wenn man den penetranten Geruch seines Deodorants ignorierte -, ging aufrecht und gerade, mit federndem Schritt und stets so, als habe er ein Ziel. „Lernt fleißig.“, pflegte er zu sagen, „Sonst werdet ihr noch einer von denen, die morgens froh um sechs am Kiosk stehen, mit der Bierdose in der Hand, und in den Papierkorb pinkeln.“ Wir lernten, doch konnten nicht umhin, Herrn Schmidt für wundersam zu erachten. Wie normal war denn ein Lehrer, der die Xanthoproteinreaktion, die Nachweisreaktion für aromatische Aminosäuren in Proteinen, an sich selbst ausprobierte, indem er Salpetersäure auf seine Hand schüttete und anschließend herumging, um die Gelbfärbung der Haut zu zeigen?

Irgendwer von uns bekam heraus, daß Herr Schmidt eine Frau hatte. Sie war behindert. Er selbst sprach nicht darüber, aber die nackten Mädchen in seiner Aktentasche ließen vermuten, daß er nicht in jeder Hinsicht glücklich mit ihr war.

„In der nächsten Stunde führe ich mündliche Tests durch.“, kündigte Herr Schmidt einmal an.
Ich erschrak. Mir fiel es leicht zu lernen, in Klausuren die richtigen Ergebnisse niederzuschreiben. Doch mündlich, von Angesicht zu Angesicht mit dem Feind, der vermutlich nur Böses wollte, würde ich versagen. Die Stunde drohte ein Debakel zu werden, denn obgleich Herr Schmidt nicht die Zeit hatte, jeden von uns zu prüfen, war es sicherlich allein meine Angst, die mich auf den freien Stuhl neben ihn befördern würde.

Es regnete an dem Tag, und Herr Schmidt begann seine Stunde. Ich bangte, doch Herr Schmidt dachte nicht daran, mit den Prüfungen zu beginnen. Vielmehr erzählte er, scheinbar ohne Anlaß, von seiner Studienzeit, damals, als er auch tagelang habe lernen müssen, bis nichts mehr in den Schädel paßte, als er wieder und wieder verzweifelte und sich wieder und wieder zu weiterem Lernen anspornte. Doch einen Tag vor der Prüfung legte er all seine Hefter und Bücher nieder, ging hinaus durch den Nieselregen zur nächsten Kneipe, dorthin, wo er sich desöfteren abends mit seinen Studienfreunden zu treffen pflegte, und betrank sich. Er verbrachte den Tag mit Trinken, schlief am nächsten Morgen aus, und ging dann mit geklärtem Kopf in die Prüfung.

Wie diese ausgegangen war, verriet er uns nicht. Vielleicht weil er begriffen hatte, daß seine Erzählung ihren Zweck verfehlt hatte. Schließlich war uns kaum noch in Erinnerung, daß er uns mahnen wollte, frühzeitig mit dem Lernen anzufangen und den Prüfungsvortag mit anderem zu verbringen, sondern nur, daß Herr Schmidt getrunken hatte, um sich von seiner Last zu befreien. War Herr Schmidt doch ein Trinker?

„Eigentlich wollte ich ja mündliche Kontrollen machen. Das habe ich leider nicht geschafft.“, sprach Herr Schmidt in das Klingeln hinein, das grell und unangenehm unsere Erlösung verkündete.
„Aber seid nächstes Mal vorbereitet.“, rief er uns hinterher, als wir bereits erleichtert nach draußen eilten, als könnte Herr Schmidt es sich noch einmal anders überlegen.

In der nächsten Stunde hatte Herr Schmidt sein Vorhaben vergessen, und wenige Wochen später war er nicht länger unser Biologielehrer. Er wurde ersetzt durch irgendwen ohne schmierigen Seitenscheitel, ohne Nackedei-Aktenkoffer, ohne die Beatles-Beagle-Geschichten. Ich weiß nicht, woran es lag, daß er entlassen wurde, vernahm Gerüchte von Drogenmißbrauch, von Problemen mit seiner Frau, doch wußte, daß allein seine Unfähigkeit als Pädagoge ausreichend Grund gewesen wäre, ihn seiner Arbeit zu entledigen.

Ich traf Herrn Schmidt noch häufig, grüßte ihn stets freundlich. Wir entdeckten, daß er täglich durch die Innenstadt lief, stets mit altbekannter Hinten-Lang-Frisur, stets mit ausgewaschener Jeans. Sein Aktenkoffer fehlte, dafür trug er nun immer ein Kapuzen-Sweatshirt und ein Basecap, das seinen fettigen Scheitel verbarg. Seine Hände versteckte er in den Ärmeln seines Sweatshirts, als müßte er Einstichlöcher verbergen. Er magerte ab, und binnen weniger Monate alterte sein Gesicht um Jahre.

Ich sah ihn von nun an seltener. Doch wenn ich ihn entdeckte, waren seine Schritte noch immer zielgerichtet, und ich fragte mich stets, wohin wohl er eilte. Doch sein Blick war fern, und er erkannte mich nicht länger. Ich entdeckte Mitleid für ihn in mir, Mitleid, weil er wegen seines fehlenden Jobs womöglich auf eine schiefe Bahn gekommen war, die nur abwärts führte.

Das alles liegt viele Jahre zurück, doch auch heute noch begegne ich manchmal Herrn Schmidt, wenn ich in meiner Heimat verweile, beobachte ihn, wie er kofferlos durch die Innenstadt läuft, die Welt um ihn herum mißachtend, noch immer mit Kapuzenshirt und Basecap bekleidet, und frage mich, ob er sich an mich erinnern würde, wenn ich ihn anspräche.
Ich wage es nicht, doch mit einiger Erleichterung bemerke ich, daß er noch immer lebt, daß er nicht schlechter aussieht, daß er sich irgendwie gefangen zu haben scheint.

Und dann blicke an mir herab und stelle verwundert fest, daß ich kein Lehrer geworden bin, obwohl ich mir damals nicht anderes vorstellen konnte.

[Im Hintergrund: Scream Silence – „Forgotten Days“]