Herr Schmidt

Zu einer Zeit, in der ich mich mit der Überlegung beschäftigte, ob ich denn nicht, wenn ich einmal groß wäre, zum Lehrer tauge und ob Biologie und Chemie nicht geeignete Fächer wären, um deren Inhalte an Schüler weiterzugeben, wurde meine Klasse von einem Lehrer unterrichtet, der auf den gewöhnlichsten aller Nachnamen hörte: Herr Schmidt.
Da ich noch längst nicht in der siebenten Klassenstufe weilte, demnach auch noch nicht die Inhalte der Chemiestunden vermittelt bekommen hatte, richtete ich mein Augenmerk auf die Biologie, also auf das Fach, das Herr Schmidt uns beizubringen versuchte.

Herr Schmidt war ein seltsamer Kerl. Ich kann mich nicht erinnern, daß er jemals etwas anderes trug als ausgewaschene Jeans und seinen Aktenkoffer mit der dreistelligen Zahlenkombination. Herr Schmidt hatte einen fettigen Seitenscheitel, den er abgöttisch zu lieben schien, der ihn aber – das war selbst mir Geschmacksunkundigen damals schon bewußt – entstellte, insbesondere weil sich zu ihm eine Art Mähne gesellte, also Haare, die ihm hinten in den Kragen wuchsen und äußerst unmodern wirkten.

Herr Schmidt trug keine Brille, wie es das Lehrerklischee forderte. Diese hätte auch schlecht in sein affenartiges Gesicht gepaßt, das – wenn ich heute darüber nachdenke – bar jeden Intelligenzfunkens zu sein schien. Dabei war Herr Schmidt nicht dumm, keineswegs, wußte er doch bestens über seine Fächer Bescheid, gab uns eine Information nach der andern kund, die wir niederzuschreiben und in Kurzkontrollen und Klausuren zu wiederholen hatten.

Einmal machte Bianca den verzeihlichen Fehler, in einer Definition statt „Organismus“ „Orgasmus“ zu schreiben und erheiterte Herrn Schmidt somit maßlos. Ich kann mich nicht erinnern, den Grund für sein Gelächter damals verstanden zu haben, doch begriff ich, daß es etwas mit dem Geheimnis seines Aktenkoffers zu tun haben mußte.
Der Aktenkoffer stand nämlich niemals auf; nur manchmal klackte Herr Schmidt zweifach an den Verschlüssen und öffnete ihn, natürlich so, daß niemandem aus der Klasse Einsicht in das mysteriöse Innere gewährt wurde. Niemandem, außer demjenigen, der dem Lehrertisch am nächsten, in der ersten Reihe, saß und der, sobald Herr Schmidt den Blick abwandte, heimlich in das Kofferinnere lugte.

Der heimlich Einblick Suchende war ich, und ich war es auch, der nicht verstand, warum Herr Schmidt sich überhaupt die Mühe machte, täglich seinen Aktenkoffer durch die Gegend zu tragen, fanden sich in ihm doch nur ein oder zwei Hefter, ein paar Schreibgegenstände und eine Zeitschrift. Das allein forderte keinen Aktenkoffer, aber vielleicht glaubte Herr Schmidt, mit einem solchen Koffer wichtig und lehrerhaft auszusehen. Ihm fehlte schließlich die Klischee-Brille.
In unseren Augen jedoch erschien Herr Schmidt eher skurril und albern.

Ich war es übrigens auch, der herausfand, welche Zeitschrift es war, die Herr Schmidt stets mit sich herumtrug, die er in dem geschlossenen Koffer vor neugierigen Augen verbarg, aber nicht vor mir geheimhalten konnte. Es war die Blitz-Illu, die vielleicht niveauloseste Schmuddelzeitschrift, die an Kiosks erwerbbar war, angefüllt mit erotischen, aber keineswegs pornographischen, Inhalten, mit Bildern leicht- oder unbekleideter Mädchen und Texten voller erfundener, unfaßbar tragischer Szenarien und Entdeckungen.

Herr Schmidt besaß vermutlich genügend Intelligenz, um die Texte für wertlos zu erachten. Sein Augenmerk galt also den Bildern – eine Information, die für uns Schüler, insbesondere uns Jungen, von hohem Wert war und für allerlei Getuschel sorgte. Allerdings nicht während seines Unterrichts, denn zuweilen wurde Herr Schmidt sehr ärgerlich und regte sich minutenlang über irgendeine, in unseren Augen unbedeutende Kleinigkeit auf.

Unsere Mädchen waren gewitzter, hatten begonnen, sich auf andere Art und Weise für Herrn Schmidt zu interessieren. Denn nach ein paar Unterrichtsstunden wurde ersichtlich, bei welchen Themen Herr Schmidt mit Vorliebe abschweifte und über Biologiefremdes zu reden begann.

So erwähnte er Charles Darwin, der mit der „Beagle“ über die Meere gefahren war und ermahnte uns, die „Beagle“ nicht mit den Beatles zu verwechseln. Das wäre uns Jungen im Traum nicht eingefallen, waren doch derart veraltete Musikgruppen kein Teil unserer Welt. Constanze und Jana jedoch inszenierten, als eines Tages eine Kurzkontrolle anstand, einen Dialog, der genau auf dieser Verwechslungsgefahr aufbaute. Herr Schmidt tapste arglos in die Falle, ließ sich nach ein paar einleitenden Worten seitens der Schüler, auf den Gedankengang ein, was wohl die Bedeutung des Wortes „Beagle“ sei. Nachdem er die Hunderasse ausgiebig erläutert hatte, sprang er über zu den Beatles, zu Elvis Presley und weiter zu anderen Themen, denen ich längst nicht mehr zuhörte. Die Stunde war gerettet, die Kurzkontrolle fiel aus, hatte dem Biologielehrer-Monolog weichen müssen.

Eine seiner Monolog-Weisheiten blieb mir bis heute im Gedächtnis und taucht immer mal wieder auf, wenn ich morgens vor dem Spiegel stehe. Damals war bei mir an ersten Flaum noch nicht zu denken, und trotzdem wies uns Herr Schmidt darauf hin, daß man möglichst spät damit beginnen sollte, sich selbst zu rasieren.
„Wenn man einmal anfängt,“, erzählte er, „wird es immer schlimmer. Zuerst rasiert man sich noch einmal die Woche, dann mehrmals und schließlich muß man sich täglich rasieren, um gesittet auszusehen. Dann gibt es kein Zurück.“ Ich glaube, Herr Schmidt haßte das Rasieren.

Wir argwöhnten, ob Herr Schmidt ein Trinker sei, und bis heute weiß ich es nicht, ja bezweifle es. Und doch zeigte er Eigenschaften, die jenen armseligen Figuren eigen war, deren Leben aus nichts als der Gemeinschaft gleichwertiger Alkoholabhängiger und flüssigem Vergessen bestand. Sein fettiger Scheitel glänzte, und hin und wieder vergaß Herr Schmidt, sich zu rasieren. Zuweilen wirkten seine Augen glasig, und seine Monologe an der Tafel wechselten ohne Zusammenhang von einer Thematik zur nächsten.

Doch er roch nicht – wenn man den penetranten Geruch seines Deodorants ignorierte -, ging aufrecht und gerade, mit federndem Schritt und stets so, als habe er ein Ziel. „Lernt fleißig.“, pflegte er zu sagen, „Sonst werdet ihr noch einer von denen, die morgens froh um sechs am Kiosk stehen, mit der Bierdose in der Hand, und in den Papierkorb pinkeln.“ Wir lernten, doch konnten nicht umhin, Herrn Schmidt für wundersam zu erachten. Wie normal war denn ein Lehrer, der die Xanthoproteinreaktion, die Nachweisreaktion für aromatische Aminosäuren in Proteinen, an sich selbst ausprobierte, indem er Salpetersäure auf seine Hand schüttete und anschließend herumging, um die Gelbfärbung der Haut zu zeigen?

Irgendwer von uns bekam heraus, daß Herr Schmidt eine Frau hatte. Sie war behindert. Er selbst sprach nicht darüber, aber die nackten Mädchen in seiner Aktentasche ließen vermuten, daß er nicht in jeder Hinsicht glücklich mit ihr war.

„In der nächsten Stunde führe ich mündliche Tests durch.“, kündigte Herr Schmidt einmal an.
Ich erschrak. Mir fiel es leicht zu lernen, in Klausuren die richtigen Ergebnisse niederzuschreiben. Doch mündlich, von Angesicht zu Angesicht mit dem Feind, der vermutlich nur Böses wollte, würde ich versagen. Die Stunde drohte ein Debakel zu werden, denn obgleich Herr Schmidt nicht die Zeit hatte, jeden von uns zu prüfen, war es sicherlich allein meine Angst, die mich auf den freien Stuhl neben ihn befördern würde.

Es regnete an dem Tag, und Herr Schmidt begann seine Stunde. Ich bangte, doch Herr Schmidt dachte nicht daran, mit den Prüfungen zu beginnen. Vielmehr erzählte er, scheinbar ohne Anlaß, von seiner Studienzeit, damals, als er auch tagelang habe lernen müssen, bis nichts mehr in den Schädel paßte, als er wieder und wieder verzweifelte und sich wieder und wieder zu weiterem Lernen anspornte. Doch einen Tag vor der Prüfung legte er all seine Hefter und Bücher nieder, ging hinaus durch den Nieselregen zur nächsten Kneipe, dorthin, wo er sich desöfteren abends mit seinen Studienfreunden zu treffen pflegte, und betrank sich. Er verbrachte den Tag mit Trinken, schlief am nächsten Morgen aus, und ging dann mit geklärtem Kopf in die Prüfung.

Wie diese ausgegangen war, verriet er uns nicht. Vielleicht weil er begriffen hatte, daß seine Erzählung ihren Zweck verfehlt hatte. Schließlich war uns kaum noch in Erinnerung, daß er uns mahnen wollte, frühzeitig mit dem Lernen anzufangen und den Prüfungsvortag mit anderem zu verbringen, sondern nur, daß Herr Schmidt getrunken hatte, um sich von seiner Last zu befreien. War Herr Schmidt doch ein Trinker?

„Eigentlich wollte ich ja mündliche Kontrollen machen. Das habe ich leider nicht geschafft.“, sprach Herr Schmidt in das Klingeln hinein, das grell und unangenehm unsere Erlösung verkündete.
„Aber seid nächstes Mal vorbereitet.“, rief er uns hinterher, als wir bereits erleichtert nach draußen eilten, als könnte Herr Schmidt es sich noch einmal anders überlegen.

In der nächsten Stunde hatte Herr Schmidt sein Vorhaben vergessen, und wenige Wochen später war er nicht länger unser Biologielehrer. Er wurde ersetzt durch irgendwen ohne schmierigen Seitenscheitel, ohne Nackedei-Aktenkoffer, ohne die Beatles-Beagle-Geschichten. Ich weiß nicht, woran es lag, daß er entlassen wurde, vernahm Gerüchte von Drogenmißbrauch, von Problemen mit seiner Frau, doch wußte, daß allein seine Unfähigkeit als Pädagoge ausreichend Grund gewesen wäre, ihn seiner Arbeit zu entledigen.

Ich traf Herrn Schmidt noch häufig, grüßte ihn stets freundlich. Wir entdeckten, daß er täglich durch die Innenstadt lief, stets mit altbekannter Hinten-Lang-Frisur, stets mit ausgewaschener Jeans. Sein Aktenkoffer fehlte, dafür trug er nun immer ein Kapuzen-Sweatshirt und ein Basecap, das seinen fettigen Scheitel verbarg. Seine Hände versteckte er in den Ärmeln seines Sweatshirts, als müßte er Einstichlöcher verbergen. Er magerte ab, und binnen weniger Monate alterte sein Gesicht um Jahre.

Ich sah ihn von nun an seltener. Doch wenn ich ihn entdeckte, waren seine Schritte noch immer zielgerichtet, und ich fragte mich stets, wohin wohl er eilte. Doch sein Blick war fern, und er erkannte mich nicht länger. Ich entdeckte Mitleid für ihn in mir, Mitleid, weil er wegen seines fehlenden Jobs womöglich auf eine schiefe Bahn gekommen war, die nur abwärts führte.

Das alles liegt viele Jahre zurück, doch auch heute noch begegne ich manchmal Herrn Schmidt, wenn ich in meiner Heimat verweile, beobachte ihn, wie er kofferlos durch die Innenstadt läuft, die Welt um ihn herum mißachtend, noch immer mit Kapuzenshirt und Basecap bekleidet, und frage mich, ob er sich an mich erinnern würde, wenn ich ihn anspräche.
Ich wage es nicht, doch mit einiger Erleichterung bemerke ich, daß er noch immer lebt, daß er nicht schlechter aussieht, daß er sich irgendwie gefangen zu haben scheint.

Und dann blicke an mir herab und stelle verwundert fest, daß ich kein Lehrer geworden bin, obwohl ich mir damals nicht anderes vorstellen konnte.

[Im Hintergrund: Scream Silence – „Forgotten Days“]

Der Busjob

Nach mehreren terminvereinbarenden Mails und Telefonaten, nach einer dreistündigen Schulung, nach ausgiebiger Regel- und Hinweislektüre und wiederholter Dialogübungen hielt ich mich für bereit, meinen Nebenjob anzutreten. Obgleich mir mißlang, extra zeitig ins Bett zu gehen, fühlte ich mich dann, als ich mich endlich dazu durchrang, längst müde genug, um gleich auf der Stelle einzuschlafen. Doch das tat ich nicht, und so lenkte ich meine wirren Gedanken in die Handlung eines angenehmen Buchs, das letztendlich meine Augen zu schließen wußte.

Aber ich fand keinen Schlaf, entdeckte in meinem Kopf mindestens drei wirklich gute Geschichten, die niederzuschreiben sich lohnen würde und den Wunsch, sofort aufzustehen und mich ihnen hinzugeben. Nebenbei trieben die geübten Dialoge ihr albernes Spiel in mir, führten mich ins Absurdum, bis ich alles ignorierend mich auf der Toilette wiederfand und vom Anblick der noch immer sommerzeitlichen Uhrzeit schockiert war, gestand sie mir doch nur noch vier Stunden Schlaf bis zum unfreiwillig-freiwilligen Erwachen zu.

Als ich 3.30 Uhr den Wecker klingeln hörte, beschloß ich, die Mitternächlichkeit meines Wachseins zu ignorieren und den Tag für angebrochen zu erklären. Ein gemütliches Frühstück erwirkte zusätzliche Hektik, als ich zur Bushaltestelle rannte, um keinesfalls am ersten Arbeitstag meinen Antritt verpassen. Ich durchquerte die Stadt, und mit mir unzählige Gesichter, die aussahen, als würden sie täglich um diese Uhrzeit aufstehen müssen. Ich lenkte mein Mitleid von mir selbst auf ihre zerfurchten, teigigen Mienen und begriff, welch Wonne es war, den Sonnenaufgang schlafend verbringen zu können.

Als ich eintraf, war meine Kollegin bereits anwesend, eine Bulgarin, die gut genug deutsch sprach, um für diese Arbeit geeignet zu sein, doch nicht gut genug, um sich ihrer selbst sicher zu sein. Der angekündigte Teamleiter fehlte – ich hatte nichts anderes erwartet und ersetzte ihn.

Wir waren im Auftrag einer Firma unterwegs, die wiederum im Auftrag einer Firma agierte, die wiederum für das Land tätig war, und hatten nichts weiter zu tun, als sechs Stunden lang mit ein- und demselben Bus umherzufahren, in ihm verweilend die Einsteigenden und Aussteigenden, die Kinderwagen , Rollstühle und Fahrräder zu zählen, die Zahlen an jeder Haltestelle niederzukritzeln und nebenbei die Fahrgäste mit einer Reihe von Fragen über ihren Fahrtweg und die Häufigkeit desselben zu plagen.

Die Bulgarin wollte zählen – eindeutig der leichtere Teil unseres Schaffens, ich willigte ein und belästigte die Busfahrenden mit meinen Interviews. Kurz vor sechs Uhr morgens war leicht nachvollziehbar, daß der Antwortunwille unter den eben Aufgestandenen recht verbreitet war; trotzdem fanden sich auf der ersten, einstündigen Fahrt fünf freundliche Menschen, die mich meinen Interviewzettel ausfüllen ließen und dafür sorgten, daß ich mit ausgetrockneter Mundhöhle in meiner Wasserflasche höchste Freuden fand.

„Ich hasse Busse.“, teilte ich meiner Kollegin mit, die sich wenig dafür interessierte, daß ich meine Aussage gern mit kindheitlichen Erlebnissen begründet hätte, bei denen zuweilen meine über Busflure verteilten Mageninhalte eine Rolle spielten. Ich schwieg also, nutzte die Endhaltestellen-Wartepause, um die auf meinem Fragebogen eingetragenen Antworten in kryptische Zahlencodes zu übersetzen und den klischeewidersprechend freundlichen Busfahrer nach einer Möglichkeit der Blasenentleeren zu befragen. Er wies mich zum Metro-Großmarkt, dessen Pforten jedoch noch geschlossen hatten, weswegen ich, den Personaleingang nutzend, durch die geheimen, fremden Augen eigentlich nicht zugänglichen, Gänge irrte, bis ich eine Erleichterungseinrichtung fand und anschließend sicheren Schrittes, als würde ich hier erlaubterweise umherwandeln und das alles kennen wie meine Westentasche, den Rückweg zum Bus antrat.

Ich genoß die frische Nachtluft, die dem wachsenden Druck in meinem Schädel die Kraft nahm, stieg ein, gesellte mich zu meiner Mitarbeiterin, die, als der Bus sich wieder in Bewegung setzte, zwei Nullen bei Ein- und Aussteiger auf ihren neuen Zettel kritzelte. Als sich die ersten Fahrgäste zu uns gesellten, begriff ich, daß nun mit höherer Aktivität und unzähligen Schülern zu rechnen war. Ich interviewte ohne Gnade, torkelte durch den prall besetzten Bus, um zu neuen Opfern zu gelangen, erhielt unzählige Ablehnungen, doch erwischte auch ein paar Willige, deren Antworten meinen kleinen Block befüllten. Hin und wieder hielt ich inne, atmete tief durch, richtete meine Blick nach vorne, durch die Scheibe auf die Straße, nahm mich zusammen, als könne ich alle Anzeichen meiner zunehmenden Übelkeit ignorieren, ja verschwinden lassen.

Die Fahrt schien kein Ende zu nehmen. Meine Befragungen erschienen mir allmählich weniger bedeutsam, ihre Anzahl wuchs langsamer. Aus meinen Zetteln las immer ich die Menge der bis zur nächsten Endhaltestelle verbleibenden Minuten ab und stöhnte lautlos in mich hinein. Ich erwog, meine Mitarbeiterin von meinem Zustand in Kenntnis zu setzen, doch sie hatte nur Augen für die Ein- und Aussteigenden, schien mich seit Anbeginn der ersten Fahrt mit höflicher Ignoranz zu dulden.

Ich blickte aus dem Fenster und erkannte die Gegend, wußte, daß es nur noch wenige Minuten dauern konnte, bis wir anhielten, uns eine kleine Pause gönnen durften. Als der letzte Fahrgast ausstieg, erstarb das Motorengeräusch. Die Ruhe, das fehlende Schaukeln und Schunkeln, die Bewegungslosigkeit des Busses, taten mir wohl, und ich erdreistete mir, den Fahrer erneut nach einer Toilette zu befragen. Er wies hinter einen Zaun, drückte mir sein Schlüsselbund in die Hand und mahnte mich zur Dringlichkeit. Dankbar rannte ich zur gezeugten Tür, schloß auf, fand das Klobecken – und übergab mich.

Ich hatte mich seit Jahren nicht mehr übergeben und längst vergessen, wie ich dieses Gefühl haßte, wie sehr mich es anwiderte, den eigenen Körper immer wieder zusammenkrampfen zu spüren, wie sehr mich es störte, nicht Herr meiner selbst sein zu können.
Ich traf das Becken nicht vollständig, benetzte jedoch einen Teil meiner Hose.

Als ich mich entleert hatte, mahnte ich mich zur Ruhe und Eile zugleich. Mit Klopapier und Papierhandtüchern bereinigte ich den Beckenrand, den Boden, mich selbst, nur provisorisch, doch gut genug, um niemanden anzuekeln. Mir selbst war Ekel fremd; ich störte mich nicht am Geruch, am Geschmack oder Aussehen des Erbrochenen, wußte nur, daß es zu beseitigen war, daß ich mich zu beeilen hatte. Das Ergebnis war zufriedenstellend, wenngleich ich meine Hose schon in sauberen Zuständen erlebt hatte.

Hastig spülte ich meine Hände ab, meinen Mund aus, trank einen Schluck Leitungswasser, rannte hinaus, schloß die Tür ab und überreichte die Schlüssel dem wartenden Busfahrer. Er wirkte nicht mürrisch; ich war früh genug zurückgekehrt. Meine Mitarbeiterin stand außerhalb des Busses, und ich erklärte ihr meine Situation, meinen Unwillen, meine Unfähigkeit, weiterzufahren. Sie verstand nicht, doch gab das nicht zu. Ich redete zu hektisch, wiederholte mich in ruhigerem Ton. Nun schien sie zu begreifen, war ratlos, wußte nicht, was sie allein anfangen sollte.

Besänftigend zückte ich das Telefon, klingelte die Zentrale an. Der Busfahrer wies uns an einzusteigen, glaubte, wir würden nur draußen verweilen, weil im Bus das Telefonieren verboten sei.
„Nur direkt hinterm Fahrersitz.“, erklärte er. „Wegen der Elektronik.“

Zur Fahrerzelle Abstand nehmend, telefonierte ich, erklärte ich mich, erhielt Verständnis. Ob ich nicht trotzdem weitermachen könne, auf die Eigenschaft als Zähler beschränkt, vorne sitzend, wo es weniger schaukelt. Ich würde es versuchen, meinte ich, den unangenehmen Geruch, der noch immer an meiner Hose [oder in meiner Nase] klebte, ignorierend. Im Augenblick ging es mir gut, doch ich wußte, das würde nicht lange so bleiben.

Von nun an war die Bulgarin die Interviewende, hatte Glück, da der Massenstrom der Zur-Schule-Fahrenden vorbei war. Nur hin und wieder eine Befragung, öfter jedoch eine Ablehnung. Ich zählte, doch mit fortschreitender Fahrt fiel es mir schwerer, mich zu konzentrieren. Irgendwann ertappte ich mich, wieder und wieder auf meinen Block zu schauen, Zahlen zu suchen. Noch dreißig Minuten. Noch 28 Minuten. Noch 25… Ich atmete tief und tiefer.

Viel konnte nicht mehr in meinem Magen sein, wußte ich, doch das Dröhnen in meinem Schädel wurde unerträglich; das Zählen fiel trotz geringer Passagieranzahl immer schwerer.
‚Ich kann jederzeit aussteigen.‘, beruhigte ich mich. Zwar ließe ich dann meine Mitarbeiterin unwissend allein zurück, doch würde sie sich schon zu helfen wissen. Das Ende der dritten einstündigen Fahrt rückte schleichend näher, und ich wußte, daß es meine letzte Fahrt sein würde. Jede einzelne Minute war ein Kampf, den ich irgendwann wieder verlieren würde.

„Es geht nicht mehr.“, teilte ich der Bulgarin mit, als niemand außer uns mehr im Bus saß. „Ich muß aufhören.“
Sie verstand, was ich sagte, doch nicht, was ich meinte, schien nicht zu begreifen, wie unwohl ich mich fühlte, blickte mich vorwurfsvoll an.
„Ich rufe in der Zentrale an.“, teilte ich der Bulgarin mit. „Die werden dir sagen, wie es nun weitergeht.“

Aus der Zentrale erhielt ich überraschenderweise Lob für meinen Kampfesgeist, für meinen Einsatz, und Genesungswünsche – kein Wort über mein Versagen, die entstehenden Nachteile. Für meine Mitarbeiterin ward auch schnell eine Lösung gefunden: Sie durfte bleiben, als Zählerin, ab und zu jemanden befragend, sobald sich die Möglichkeit ergab. Sie wurde zur Teamleiterin befördert, bekam die Aufgabe, unsere Zettel im Laufe des Tages in der Zentraler einzureichen.

Ich dagegen packte meine Sachen ein, schloß im Geiste mit der Fahrt ab, bewahrte Ruhe, konzentrierte mich auf die Straße und auf den Augenblick, in dem ich aussteigen, umsteigen würde. Mein Kopf dröhnte, und ich sehnte mich nach Ruhe.

Ein Knall. Der Bus hatte einem abdrängenden PKW ausweichen müssen und im Gebüsch einen großen Stein gestreift. Die Frontschürze war beschädigt, der Blinker funktionsuntüchtig.
Der Busfahrer hielt an, stieg aus, besah sich den Schaden, fuhr zur Endhaltestelle weiter, wo er warten und seine Kollegen informieren konnte. Auf dem Display neben dem Lenkrad stand eine Botschaft: „Bus beschädigt. Weiterfahrt möglich.“ Ich war beeindruckt.

Der Busfahrer blieb ruhig. Allerdings hatte sein Funkgerät hier keinen Empfang, er wußte nicht weiter, entlieh sich mein Handy, dessen Guthaben längst unter einem Euro angekommen war, und schaffte es, seine Kollegen zu informieren, einen Austausch zu organisieren. Dankbar gab er mir das Mobiltelefon zurück, und ich war froh, daß ich ihm ebenso helfen konnte, wie er mir geholfen hatte,

Wir verständigten die Zentrale über den kleinen Unfall, über die Möglichkeit des Bustausches. Der Mitarbeiter dort war amüsiert. Ich, wissend, endlich heimkehren zu können, auch.

Nach einer mehrminütigen Wartezeit an der Endhaltestelle fuhr der Bus weiter. Die Bulgarin zählte und bemühte sich, sobald die ersten Fahrgäste eingestiegen waren, diese zu interviewen. Sie tat sich schwer dabei, stellte ich fest, und überlegte, ob es an fehlenden Deutschkenntnissen oder allgemeiner Unwissenheit liegen könnte.

Als ich endlich ausstieg, atmete ich auf. Ein paar Meter weiter wurde der Bus getauscht, doch das interessierte mich nicht mehr. Das Dröhnen in meinem Kopf nahm mich noch immer ein, drohte mir, doch ich ignorierte es, freute mich, daß der Boden unter meinen Füßen endlich stillstand.

[Im Hintergrund: Arch Enemy – „Wages Of Sin“]

Ungleichheit

Obgleich mit „Blitzkrieg“, „Sauerkraut“, „Autobahn“ und „Rucksack“ ursprünglich deutsche Wörter in englischsprachigen Gegenden genutzt werden, sollte man nicht auf die Idee kommen, den Satz
„I had been berated.“
mit
„Ich wurde beraten.“
zu übersetzen…

[Obwohl…]

[Im Hintergrund: Arch Enemy – „Anthems of Rebellion“]

FFFfF: Geschwindigkeitssteigerung

Und wieder ging ich lange vor Anbruch des neuen Tages zu Bett – um den fehlenden Schlaf der vergangenen Nacht einzuholen – und vernachlässigte somit die mitternächtliche Veröffentlichung des 46. „Fledermaus Fürst Frederick fon Flatter“-Comicstrips, der übrigens eine Art Fortsetzung des gestrigen darstellt und am morgigen Tage selbst eine Fortsetzung erhalten wird.

Übrigens pegelte sich der vorgestrige Besucher-Spitzenwert des Frederick-Weblogs gestern wieder auf normale Werte ein. Ich bin nicht enttäuscht; keine Sorge.

Und so.


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[Im Hintergrund: Arch Enemy – „Doomsday Machine“]