Der Busjob

Nach mehreren terminvereinbarenden Mails und Telefonaten, nach einer dreistündigen Schulung, nach ausgiebiger Regel- und Hinweislektüre und wiederholter Dialogübungen hielt ich mich für bereit, meinen Nebenjob anzutreten. Obgleich mir mißlang, extra zeitig ins Bett zu gehen, fühlte ich mich dann, als ich mich endlich dazu durchrang, längst müde genug, um gleich auf der Stelle einzuschlafen. Doch das tat ich nicht, und so lenkte ich meine wirren Gedanken in die Handlung eines angenehmen Buchs, das letztendlich meine Augen zu schließen wußte.

Aber ich fand keinen Schlaf, entdeckte in meinem Kopf mindestens drei wirklich gute Geschichten, die niederzuschreiben sich lohnen würde und den Wunsch, sofort aufzustehen und mich ihnen hinzugeben. Nebenbei trieben die geübten Dialoge ihr albernes Spiel in mir, führten mich ins Absurdum, bis ich alles ignorierend mich auf der Toilette wiederfand und vom Anblick der noch immer sommerzeitlichen Uhrzeit schockiert war, gestand sie mir doch nur noch vier Stunden Schlaf bis zum unfreiwillig-freiwilligen Erwachen zu.

Als ich 3.30 Uhr den Wecker klingeln hörte, beschloß ich, die Mitternächlichkeit meines Wachseins zu ignorieren und den Tag für angebrochen zu erklären. Ein gemütliches Frühstück erwirkte zusätzliche Hektik, als ich zur Bushaltestelle rannte, um keinesfalls am ersten Arbeitstag meinen Antritt verpassen. Ich durchquerte die Stadt, und mit mir unzählige Gesichter, die aussahen, als würden sie täglich um diese Uhrzeit aufstehen müssen. Ich lenkte mein Mitleid von mir selbst auf ihre zerfurchten, teigigen Mienen und begriff, welch Wonne es war, den Sonnenaufgang schlafend verbringen zu können.

Als ich eintraf, war meine Kollegin bereits anwesend, eine Bulgarin, die gut genug deutsch sprach, um für diese Arbeit geeignet zu sein, doch nicht gut genug, um sich ihrer selbst sicher zu sein. Der angekündigte Teamleiter fehlte – ich hatte nichts anderes erwartet und ersetzte ihn.

Wir waren im Auftrag einer Firma unterwegs, die wiederum im Auftrag einer Firma agierte, die wiederum für das Land tätig war, und hatten nichts weiter zu tun, als sechs Stunden lang mit ein- und demselben Bus umherzufahren, in ihm verweilend die Einsteigenden und Aussteigenden, die Kinderwagen , Rollstühle und Fahrräder zu zählen, die Zahlen an jeder Haltestelle niederzukritzeln und nebenbei die Fahrgäste mit einer Reihe von Fragen über ihren Fahrtweg und die Häufigkeit desselben zu plagen.

Die Bulgarin wollte zählen – eindeutig der leichtere Teil unseres Schaffens, ich willigte ein und belästigte die Busfahrenden mit meinen Interviews. Kurz vor sechs Uhr morgens war leicht nachvollziehbar, daß der Antwortunwille unter den eben Aufgestandenen recht verbreitet war; trotzdem fanden sich auf der ersten, einstündigen Fahrt fünf freundliche Menschen, die mich meinen Interviewzettel ausfüllen ließen und dafür sorgten, daß ich mit ausgetrockneter Mundhöhle in meiner Wasserflasche höchste Freuden fand.

„Ich hasse Busse.“, teilte ich meiner Kollegin mit, die sich wenig dafür interessierte, daß ich meine Aussage gern mit kindheitlichen Erlebnissen begründet hätte, bei denen zuweilen meine über Busflure verteilten Mageninhalte eine Rolle spielten. Ich schwieg also, nutzte die Endhaltestellen-Wartepause, um die auf meinem Fragebogen eingetragenen Antworten in kryptische Zahlencodes zu übersetzen und den klischeewidersprechend freundlichen Busfahrer nach einer Möglichkeit der Blasenentleeren zu befragen. Er wies mich zum Metro-Großmarkt, dessen Pforten jedoch noch geschlossen hatten, weswegen ich, den Personaleingang nutzend, durch die geheimen, fremden Augen eigentlich nicht zugänglichen, Gänge irrte, bis ich eine Erleichterungseinrichtung fand und anschließend sicheren Schrittes, als würde ich hier erlaubterweise umherwandeln und das alles kennen wie meine Westentasche, den Rückweg zum Bus antrat.

Ich genoß die frische Nachtluft, die dem wachsenden Druck in meinem Schädel die Kraft nahm, stieg ein, gesellte mich zu meiner Mitarbeiterin, die, als der Bus sich wieder in Bewegung setzte, zwei Nullen bei Ein- und Aussteiger auf ihren neuen Zettel kritzelte. Als sich die ersten Fahrgäste zu uns gesellten, begriff ich, daß nun mit höherer Aktivität und unzähligen Schülern zu rechnen war. Ich interviewte ohne Gnade, torkelte durch den prall besetzten Bus, um zu neuen Opfern zu gelangen, erhielt unzählige Ablehnungen, doch erwischte auch ein paar Willige, deren Antworten meinen kleinen Block befüllten. Hin und wieder hielt ich inne, atmete tief durch, richtete meine Blick nach vorne, durch die Scheibe auf die Straße, nahm mich zusammen, als könne ich alle Anzeichen meiner zunehmenden Übelkeit ignorieren, ja verschwinden lassen.

Die Fahrt schien kein Ende zu nehmen. Meine Befragungen erschienen mir allmählich weniger bedeutsam, ihre Anzahl wuchs langsamer. Aus meinen Zetteln las immer ich die Menge der bis zur nächsten Endhaltestelle verbleibenden Minuten ab und stöhnte lautlos in mich hinein. Ich erwog, meine Mitarbeiterin von meinem Zustand in Kenntnis zu setzen, doch sie hatte nur Augen für die Ein- und Aussteigenden, schien mich seit Anbeginn der ersten Fahrt mit höflicher Ignoranz zu dulden.

Ich blickte aus dem Fenster und erkannte die Gegend, wußte, daß es nur noch wenige Minuten dauern konnte, bis wir anhielten, uns eine kleine Pause gönnen durften. Als der letzte Fahrgast ausstieg, erstarb das Motorengeräusch. Die Ruhe, das fehlende Schaukeln und Schunkeln, die Bewegungslosigkeit des Busses, taten mir wohl, und ich erdreistete mir, den Fahrer erneut nach einer Toilette zu befragen. Er wies hinter einen Zaun, drückte mir sein Schlüsselbund in die Hand und mahnte mich zur Dringlichkeit. Dankbar rannte ich zur gezeugten Tür, schloß auf, fand das Klobecken – und übergab mich.

Ich hatte mich seit Jahren nicht mehr übergeben und längst vergessen, wie ich dieses Gefühl haßte, wie sehr mich es anwiderte, den eigenen Körper immer wieder zusammenkrampfen zu spüren, wie sehr mich es störte, nicht Herr meiner selbst sein zu können.
Ich traf das Becken nicht vollständig, benetzte jedoch einen Teil meiner Hose.

Als ich mich entleert hatte, mahnte ich mich zur Ruhe und Eile zugleich. Mit Klopapier und Papierhandtüchern bereinigte ich den Beckenrand, den Boden, mich selbst, nur provisorisch, doch gut genug, um niemanden anzuekeln. Mir selbst war Ekel fremd; ich störte mich nicht am Geruch, am Geschmack oder Aussehen des Erbrochenen, wußte nur, daß es zu beseitigen war, daß ich mich zu beeilen hatte. Das Ergebnis war zufriedenstellend, wenngleich ich meine Hose schon in sauberen Zuständen erlebt hatte.

Hastig spülte ich meine Hände ab, meinen Mund aus, trank einen Schluck Leitungswasser, rannte hinaus, schloß die Tür ab und überreichte die Schlüssel dem wartenden Busfahrer. Er wirkte nicht mürrisch; ich war früh genug zurückgekehrt. Meine Mitarbeiterin stand außerhalb des Busses, und ich erklärte ihr meine Situation, meinen Unwillen, meine Unfähigkeit, weiterzufahren. Sie verstand nicht, doch gab das nicht zu. Ich redete zu hektisch, wiederholte mich in ruhigerem Ton. Nun schien sie zu begreifen, war ratlos, wußte nicht, was sie allein anfangen sollte.

Besänftigend zückte ich das Telefon, klingelte die Zentrale an. Der Busfahrer wies uns an einzusteigen, glaubte, wir würden nur draußen verweilen, weil im Bus das Telefonieren verboten sei.
„Nur direkt hinterm Fahrersitz.“, erklärte er. „Wegen der Elektronik.“

Zur Fahrerzelle Abstand nehmend, telefonierte ich, erklärte ich mich, erhielt Verständnis. Ob ich nicht trotzdem weitermachen könne, auf die Eigenschaft als Zähler beschränkt, vorne sitzend, wo es weniger schaukelt. Ich würde es versuchen, meinte ich, den unangenehmen Geruch, der noch immer an meiner Hose [oder in meiner Nase] klebte, ignorierend. Im Augenblick ging es mir gut, doch ich wußte, das würde nicht lange so bleiben.

Von nun an war die Bulgarin die Interviewende, hatte Glück, da der Massenstrom der Zur-Schule-Fahrenden vorbei war. Nur hin und wieder eine Befragung, öfter jedoch eine Ablehnung. Ich zählte, doch mit fortschreitender Fahrt fiel es mir schwerer, mich zu konzentrieren. Irgendwann ertappte ich mich, wieder und wieder auf meinen Block zu schauen, Zahlen zu suchen. Noch dreißig Minuten. Noch 28 Minuten. Noch 25… Ich atmete tief und tiefer.

Viel konnte nicht mehr in meinem Magen sein, wußte ich, doch das Dröhnen in meinem Schädel wurde unerträglich; das Zählen fiel trotz geringer Passagieranzahl immer schwerer.
‚Ich kann jederzeit aussteigen.‘, beruhigte ich mich. Zwar ließe ich dann meine Mitarbeiterin unwissend allein zurück, doch würde sie sich schon zu helfen wissen. Das Ende der dritten einstündigen Fahrt rückte schleichend näher, und ich wußte, daß es meine letzte Fahrt sein würde. Jede einzelne Minute war ein Kampf, den ich irgendwann wieder verlieren würde.

„Es geht nicht mehr.“, teilte ich der Bulgarin mit, als niemand außer uns mehr im Bus saß. „Ich muß aufhören.“
Sie verstand, was ich sagte, doch nicht, was ich meinte, schien nicht zu begreifen, wie unwohl ich mich fühlte, blickte mich vorwurfsvoll an.
„Ich rufe in der Zentrale an.“, teilte ich der Bulgarin mit. „Die werden dir sagen, wie es nun weitergeht.“

Aus der Zentrale erhielt ich überraschenderweise Lob für meinen Kampfesgeist, für meinen Einsatz, und Genesungswünsche – kein Wort über mein Versagen, die entstehenden Nachteile. Für meine Mitarbeiterin ward auch schnell eine Lösung gefunden: Sie durfte bleiben, als Zählerin, ab und zu jemanden befragend, sobald sich die Möglichkeit ergab. Sie wurde zur Teamleiterin befördert, bekam die Aufgabe, unsere Zettel im Laufe des Tages in der Zentraler einzureichen.

Ich dagegen packte meine Sachen ein, schloß im Geiste mit der Fahrt ab, bewahrte Ruhe, konzentrierte mich auf die Straße und auf den Augenblick, in dem ich aussteigen, umsteigen würde. Mein Kopf dröhnte, und ich sehnte mich nach Ruhe.

Ein Knall. Der Bus hatte einem abdrängenden PKW ausweichen müssen und im Gebüsch einen großen Stein gestreift. Die Frontschürze war beschädigt, der Blinker funktionsuntüchtig.
Der Busfahrer hielt an, stieg aus, besah sich den Schaden, fuhr zur Endhaltestelle weiter, wo er warten und seine Kollegen informieren konnte. Auf dem Display neben dem Lenkrad stand eine Botschaft: „Bus beschädigt. Weiterfahrt möglich.“ Ich war beeindruckt.

Der Busfahrer blieb ruhig. Allerdings hatte sein Funkgerät hier keinen Empfang, er wußte nicht weiter, entlieh sich mein Handy, dessen Guthaben längst unter einem Euro angekommen war, und schaffte es, seine Kollegen zu informieren, einen Austausch zu organisieren. Dankbar gab er mir das Mobiltelefon zurück, und ich war froh, daß ich ihm ebenso helfen konnte, wie er mir geholfen hatte,

Wir verständigten die Zentrale über den kleinen Unfall, über die Möglichkeit des Bustausches. Der Mitarbeiter dort war amüsiert. Ich, wissend, endlich heimkehren zu können, auch.

Nach einer mehrminütigen Wartezeit an der Endhaltestelle fuhr der Bus weiter. Die Bulgarin zählte und bemühte sich, sobald die ersten Fahrgäste eingestiegen waren, diese zu interviewen. Sie tat sich schwer dabei, stellte ich fest, und überlegte, ob es an fehlenden Deutschkenntnissen oder allgemeiner Unwissenheit liegen könnte.

Als ich endlich ausstieg, atmete ich auf. Ein paar Meter weiter wurde der Bus getauscht, doch das interessierte mich nicht mehr. Das Dröhnen in meinem Kopf nahm mich noch immer ein, drohte mir, doch ich ignorierte es, freute mich, daß der Boden unter meinen Füßen endlich stillstand.

[Im Hintergrund: Arch Enemy – „Wages Of Sin“]