Die Maus und der Sperling

Eines Tages traf ein Sperling auf eine Maus, die sich gerade an einem Käse vergnüglich getan hatte und nun einen Verdauungsspaziergang einlegte. Die Maus piepste, der Sperling zwitscherte, und schon bald bemerkten die beiden, dass sie sich bestens verstanden. Sie gingen gemeinsam ein gutes Stück Weg, schwatzten und lachten, piepsten und zwitscherten, und fanden ineinander gute Freunde. Mit jedem Schritt vertiefte sich ihre Freundschaft, und so gingen sie weiter und weiter, zusammen und vergnügt.

Die Maus trippelte rasch, der Sperling jedoch, dem das Laufen und Hüpfen ein wenig schwerer fiel, musste hin und wieder innehalten und eine Pause einlegen. Die Maus lächelte dann und wartete geduldig, erzählte von Sonnenblumen oder Fellpflege, bis der Sperling seinen Atem wiedergefunden hatte und bereit war, noch ein wenig weiterzulaufen.

Und so liefen die beiden, so ungleich sie waren, mit höchster Freude stundenlang, tagelang, zusammen über Wiesen und Felder, erzählten einander von Träumen und Sorgen, von heiteren Momenten und großen Gefühlen. Oder sie schwiegen zusammen, und es war das köstlichste Schweigen der Welt.

Hin und wieder rasteten sie, nicht selten des Sperlings wegens, doch war jede Pause nur von kurzer Dauer, denn beide Wesen drängten darauf, weiter, immer weiter, zu laufen, zu trippeln und zu hüpfen.

Eines Tages gerieten die beiden an einen Abgrund.
„Hier endet der Weg.“, piepste die Maus, denn obwohl sie sich gründlich umgesehen hatte, fand sie keinen Pfad, der beschreitbar gewesen wäre.
„Hier endet der Weg.“, bestätigte der Sperling traurig tschilpend, und beide wussten, was das bedeutete.

Maus und Sperling schwiegen, und der Abgrund war ein dunkles Dröhnen in der Stille.

„Meine Füße sind längst wund.“, flüsterte der Sperling. „Ich kann dich nicht länger begleiten, kann nicht zurück.“
„Meine Flügel sind zu klein.“, wisperte die Maus. „Ich kann dich nicht länger begleiten, kann nicht weiter.“

Der Sperling nickte, spreizte seine Flatterflügel und erhob sich in die Wolken. Die Maus sah ihm nach, dann drehte sie sich um und huschte davon.

Und manchmal, an traurigen Tagen, blickt die Maus nach oben und schmunzelt. Und manchmal, in allzu stillen Stunden, schaut der Sperling nach unten und schmunzelt. Irgendwo dort gibt es einen Freund.

Lisa

Es gab kein Wetter, das ihm nicht behagte, keines, das imstande war, ihn zu vertreiben, ihn davon abhalten, seinen Stammplatz einzunehmen, jeden Morgen, pünktlich um 9.30 Uhr, dann, wenn die Geschäfte öffneten und Publikum herbeiströmen konnte. Es strömte nicht, das Publikum, denn er war nur ein Leierkastenspieler, ein alter noch dazu, der tagein tagaus an seinem antiquierten Apparat kurbelte und ihm Melodie für Melodie entlockte.

Hin und wieder gesellte sich eine ungewöhnliche Note in sein Spiel, ein metallischer Laut, der ein Lächeln des Dankes über sein verwittertes Antlitz ließ, einen lichtenen Schatten, der die Falten zu einem kurzen Lächeln sortierte und dann ebenso rasch verschwand, wie er gekommen war. „Danke.“, sagte der alte Mann dann, nickte dem Passanten, der im Vorübereilen die Münze fallen gelassen hatte, zu, und manchmal, nur manchmal, konnte man erkennen, dass der von wüstem Bartgeflecht umkränzten Mund nur noch wenige Zähne beherbergte. Doch zeigte er ein Lächeln, und schwand es noch so rasch dahin, so schien es, als flösse Güte aus ihm heraus, als hätte der alte Mann sich bewusst mit zahlreichen Zahnlücken bestückt, um der Herzenswärme, die in ihm brodelte, einen Ausweg zu schenken. Es gab nur wenige, die ihn tatsächlich jemals lächeln sahen, und Lisa gehörte zu ihnen.

Der alte Mann stand neben dem Denkmal, das Goethe oder Schiller oder irgendeinen Künstler darstellte, dessen Namen Lisa nie für wichtig erachtet hatte, stand dort, als hätte er sich selbst zum Denkmal erkoren, stand dort und kurbelte, in Regen und Schnee, in Nebel und Sonnenschein. Ton für Ton kroch aus seinem längst verblichenen Kasten, und Lisa blieb häufig stehen, um ihm zu lauschen, ihm, dem Leierkastenmann, ihm dem Verrückten mit dem Rauschbart.

In ihrem gesamten Leben, und das währte immerhin bereits neuneinhalb Jahre, hatte Lisa niemals so viele Runzeln und Haare in einem einzigen Gesicht gesehen. Und niemals hatte sie so schöne, so traurige Lieder gehört. Nein, nicht traurige, nur einsame, schwermütige, ergreifende.

Der Leierkasten selbst klang schrecklich, und wer nur hastig von einem Geschäft zum nächsten rannte, ertappte sich nicht selten dabei, wie er den alten Mann und seinen Lärm genervt ansah, als könnten ein Augenrollen und ein Seufzen ihn davon abhalten, seine Lieder zu spielen, ihn, der Sturm und Winden trotzte, ihn, der jeden Tag, pünktlich 9.30 Uhr seinen Leierkasten aufklappte und an der Kurbel zu drehen begann. Nein, der Kasten klang schrecklich, doch hinter den fahlen Tönen, die unsicher durch die Luft zu zittern schienen, schwebte eine zweite Melodie, eine, deren Zauber Lisa jedes Mal von neuem zu fesseln mochte, eine, die ihr, wenn sie nicht aufpasste, den Atem nahm.

Und so ertappte sich Lisa, wie sie dem alten Mann immer häufiger zuhörte, wie sie ihn beobachte, oft aus einem Versteck heraus, wie sie lächelte, wenn er lächelte, wie sie sich daran erfreute, dass er zu jedem Lied, das er spielte, die Worte zu kennen schien und manchmal lautlos mitsang. Der alte Mann, so wirr und verrückt erwirkte, so erbärmlich und mitleidserregend er aussah, wuchs ihr ans Herz. Vielleicht war es nur seine Musik, waren es die Lieder, die er spielte, die er Tag für Tag erkurbelte, die kippenden Klänge, hinter deren bröckeliger Fassade so viel mehr zu stecken schien.

Woran es auch lag; eines Tages jedenfalls fasste Lisa einen Entschluss: Nicht länger wollte sie in ihrem Versteck verweilen, nicht länger unbesehen den Klängen lauschen, nicht länger das Verhalten des Drehorgelspielers studieren, als wäre er ein Insekt unter dem Mikroskop. Nein, sie wollte Worte mit ihm wechseln, seinen Namen erfahren, wollte ihm sagen, wie schön seine Musik sei, vielleicht ein wenig zu ihr tanzen, zwei, drei Schritte nur, und dann wieder gehen. Vielleicht würde ihr Lächeln ihn finden und anstecken, vielleicht gar ein wenig auf seinen Lippen verweilen.

Tagelang zögerte sie, haderte sie mit sich selbst. Dann erwarb sie an einem der zahlreichen Blumenstände eine Tulpe, eine kleine, zierliche, fast kümmerliche, Tulpe, sonnengelb, unmittelbar vor vollständiger Blüte stehend und doch unscheinbar gegenüber ihren intensiver strahlenden, prächtigeren Brüdern und Schwestern. Lisa kaufte also die Blume, atmete tief durch und ging auf den Drehorgelspieler zu. Dieser leierte eine sehnsüchtige Melodie durch den Äther, und mit jedem Takt, so schien es ihr, wurden Lisas Beine schwerer und schwerer, mit jeder Note sank ihr Mut.

Doch dann stand sie vor ihm. Er sah sie nicht, starrte geistesabwesend ins Leere, und seine hellblauen Augen waren Meere der Traurigkeit. Nie hatte sie seine Augen bemerkt, stellte sie erstaunt fest. Passte man nicht auf, konnte man in ihnen ertrinken, dachte Lisa, und ein wohliger Schauer lief ihr über den Rücken.

Sie riss sich los, legte ihre Tulpe vorsichtig in die unförmige Mütze, die Tag für Tag auf dem Bordstein lag und Münzgeklimper erhoffte, und ging eilig davon. Ohne zu tanzen. Ohne zu lächeln. Ohne nach einem Namen gefragt zu haben. Ihre Beine wogen Tonnen, und auch ihr Gesicht war wie festgefroren. Nur weg hier!, war ihr einziger Gedanke, und sie ging, nein floh, weiter, ließ sich von den trüben Drehorgelklängen begleiten, umschmeicheln und spürte, wie mit jedem Meter, den sie sich von dem Alten entfernte, ihr Schritte behender, leichtfüßiger, wurden.

Dann verstummte die Musik. Plötzlich, überraschend, mitten im Lied. Lisa kannte dieses Lied, hatte es bereits mehrere Male vernommen, bildete sich gar insgeheim ein, mitsingen zu können, obwohl sie nie nur eine Zeile des Textes gehört hatte. Doch nun brach es ab, anderthalb Strophen und zwei Refrains vor dem Ende, mittendrin, als hätte jemand die Welt angehalten.

Und vielleicht war es genau das: Die Welt war stehengeblieben. Nur für sie, Lisa. Und für den alten Mann. Noch nie hatte er ein Lied unterbrochen, noch nicht einmal, als Jugendliche ihm eine Handvoll Münzen aus der Mütze gestohlen hatten und siegessicher grölend fortgerannt waren. Noch nicht einmal, als eine ältere Dame in herbstbraunem Faltenrock sich heiser ein bestimmtes Lied, möglicherweise aus ihrer Kindheit, gewünscht hatte. Noch nie.

Und jetzt war er verstummt. Die Drehorgelkurbel stach starr in den Himmel, und der alte Mann hielt die Tulpe in den Händen, schaute sie an, als fände er in ihr ein Eldorado. Oder ein Paradies. Er lächelte, und obwohl Lisa sich bereits zu weit von dem alten Mann entfernt hatte, spürte sie eine warme Woge ihre Sinne umgarnen, sie mit Liebreiz zu benetzen, als wäre die Wirklichkeit plötzlich ein winziges Stück, einen Millimeter nur, hin zum Sonnenlicht gerückt.

Lisa blieb stehen, spürte, dass auch ihre Mundwinkel nach oben geschwebt waren, dass sich auch auf ihrem Antlitz ein Lächeln eingenistet hatte, als wolle es dort für alle Zeiten bleiben. Der alte Mann blickte auf, drehte seinen Kopf und sah sie an. Mehr als zweihundert Meter trennten sie, und doch sah der Alte ihr in die Augen, und durch die Augen hindurch in ihren Kopf, in ihr Denken, in ihr Innerstes, in ihr Herz.
Das kann doch nicht sein!, dachte Lisa verwirrte und rannte davon.

Doch am nächsten Tag kam sie zurück. Und am übernächsten. Und am Tag darauf. Und jedesmal wenn sie glaubte, der Alte wäre tief in seine Musik versunken, warf sie eine kleine Blume in seine Mütze. Eine Rose, eine Narzisse, ein Gänseblümchen. Es spielte keine Rolle. Jede Blume war wunderschön in ihrer Hand, so wie jedes Lied des alten Mannes wunderschön war, hatte man einmal damit begonnen, hinter die Töne zu hören.

Und eines Tages lief sie nicht mehr fort. Sie warf eine weiße Nelke in die Mütze und blieb einfach stehen. Der alte Mann hörte auf zu drehen, warf einen Blick auf die Blume, trat hinter seinem Leierkasten hervor und bückte sich. Dann fiel sein Blick auf Lisa, auf Lisa, die lächelte, auf Lisa, die all ihren Mut aufbrachte und dem Alten in seine meeresblauen Augen sah. Auf Lisa, die tausend Fragen in sich fühlte, doch kein Wort herauszubringen vermochte. Auf Lisa, die sich befreite, die aus den Tiefen seiner Augen auftauchte, Luft holte und dennoch stehenblieb, dennoch nicht wegrannte.

Der Alte nickte, legte die Nelke vorsichtig auf seine Drehorgel und begann zu spielen. Ein altes Lied, das sich wohlig warm um Lisas Gedanken legte, das unendlich traurig und heiter zugleich zu sein schien, so voller Hoffnung, so voller Träume, so voller Sehnsucht, dass Lisa sich nicht länger imstande zu sein glaubte, die Tränen zurückzuhalten. Doch so fest sie auch ihre Lider schloss, der Fluss, der in ihr auszubrechen drohte, war unaufhaltsam. Silberne Perlen, dachte Lisa noch, als die erste Träne bereits unter ihrem Augenlid hervorschoss und ihre Wange hinabglitt. Doch bevor ihre Gefährten nacheilen und vielleicht sogar Taschentücher füllen konnten, änderte sich die Melodie.

Die Klänge, die dem alten Gerät entsprangen, wurden leichter, beschwingter, und wie von allein fanden Lisas Füße den Takt, ließen sich vom Rhythmus leiten und bewegten sich vergnügt aus dem grauen Asphalt. Lisa tanzte, ließ die Augen geschlossen und gab sich der Musik hin. Nicht lange, nur ein paar Augenblicke, doch genug, um den alten Mann lächeln zu lassen, genug, um sich wie in einem Traum zu fühlen, genug, um sich noch Stunden später, als Lisa längst heimgekehrt war und ihren Kopf in ein weiches Kissen gebettet hatte, zu fragen, was in diesem Moment geschehen war, welcher Zauber von ihr Besitz ergriffen hatte.

Am nächsten Tag kam sie zurück. Und auch am übernächsten. Hin und wieder tanzte sie, nicht lange, nur ein paar Schritte, doch Leute blieben stehen und sahen ihr zu, hörten vielleicht erstmals auf die Musik, die der alte Mann tagtäglich spielte. Und diese Musik war neu.

Waren die Lieder früher, nächtlichen Wogen gleich, mit trüber Schwermut durch Geist und Seele geflutet, hatten jeden Winkel des Denkens mit der bitteren Süße der Sehnsucht gefüllt und ungewisse Hoffnungen, warme, jedoch ungreifbare Erinnerungen hinterlassen, waren sie nun fast heiter, Gazellensprüngen ähnlich, wild und lieblich zugleich, wie Kirschblüten im Wirbel warmer Frühlingswinde. Die Lieder fanden Lisa und belebten sie, erheiterten sie, geleiteten sie zum Tanz, zu anmutiger Bewegung, und der alte Mann sah häufiger und häufiger auf und lächelte ihr zu, schenkte ihr Wärme, ermutigte sie zu weiteren Schritten, zu Wirbelhaaren und Gewänderrauschen, zu einem Lachen, das glockenhell die Musik zu vergolden schien.

Und doch fehlte etwas. Lisa bemerkte es nicht gleich, war viel zu sehr gefangen von den Klängen, von der Bewegung, vom Leuchten, das in ihrem Herz erwacht war, doch nach und nach, nach Tagen und Wochen, hielt sie plötzlich, mitten im Lied, so wie einst der alte Mann, inne.

Der Alte spielte weiter, ließ sich nicht beirren, hielt den Rhythmus, drehte an seiner Leier und ließ das Publikum schunkeln, mit den Klangwellen schaukeln. Doch Lisa stand still. Stand still und lauschte. Etwas fehlte.

Töne vibrierten durch den Äther, lockten ihre Füße, ihre Beine, zur Bewegung. Nein, dachte sie, und stand still.

Und dann hörte sie es, hörte sie das erbärmliche Seufzen der Drehorgel, das stete Quietschen der Leier, das Rattern im Inneren des hölzernen Kastens, die blassen Klänge, die sich aus dem Gerät stahlen und in die Ohren der Lauschenden setzten. Dies war nicht länger ihr Leierkastenmann, dies waren nicht länger die Melodien, hinter denen sich weitere, tiefere, richtigere, verbargen. Nein, dies waren Falschtöne, heitere Klänge auf die verzerrten Noten geklebt, frohsinniges Gedudel, das mit Wohltat lockte, das das Gemüt umschmeichelte, das die Köpfe im Takt nicken ließ. Dies war ein gleißendes Tönen, Schall mit unbeschwerter Süße, doch leerem Inneren. Die war nur Klang, nur Rausch, nicht mehr.

Wo war die Musik hinter der Musik? Wo waren die Worte, die sich wie von selbst in ihre Gedanken legten? Wo die Hoffnungen? Wo die Sehnsüchte? Wo, und das war vielleicht die bedeutsamste aller Fragen, wo war der Leierkastenmann, den sie einst gefunden hatte, jener, dessen Träume sie mitrissen, jener, dessen Schwermut so warm in ihr Gemüt gedrungen war?

Sie sah auf, blickte vorbei an verfilztem Bart und zahnlosem Mund, zu einem Lächeln verformt, das ihr zu gelten schien und doch nur ein Lächeln war, nicht mehr, blickte vorbei an den Furchen, in denen sich so viele Geschichten verbargen, blickte tief in die meeresblauen Augen und suchte.

„Das bist nicht du.“, sagte sie, und es waren die ersten Worte, die sie je an den alten Mann gerichtet hatte. Dann drehte sie sich um und ging.

Der alte Mann spielte weiter, doch seine Gedanken verweilten woanders, glitten ab vom dem Frohsinn, den sein Instrument verströmte und eilten hinter Lisa hinterher, hinter Lisa, deren Namen er nicht kannte, hinter Lisa, für deren Lächeln, für deren zaghaft tänzelnde Schritte auf grauem Asphalt, er jedes Lied, jeden Ton gespielt hätte, hinter Lisa, die nun ging, weil sie verstand.

Der alte Mann nickte langsam, spielte sein Lied zuende und nickte. Dann, als die nächste Melodie begann, wankte die Welt. Der Kasten knarrte unbekannte Klänge, und verwundert blinzelten die noch eben beschwingt schaukelnden Passanten, als hätte sie jemand eines Märchenschlafs beraubt. Blasse, farblose Töne quälten sich aus dem Gerät, während der Leierkastenmann kurbelte und drehte. Und mit jeder Drehung, mit jedem Takt, fand er ein Stück seiner selbst wieder, fand er die Worte, die zu den Liedern gehörten, die einst seinem Inneren entsprangen waren, fand er die Töne, die hinter den Tönen lagen, fand er die Klänge, die mehr waren als nur Klang.

Und irgendwo, nicht allzu weit entfernt, ging Lisa, lauschte der Sehnsucht, der Schönheit, die kaum hörbar an ihr Ohr, ihr Herz, drang, und wärmte sich an dem Lächeln, das, wie sie wusste, auf den bartumkränzten Lippen des alten Mannes lag.

Das Geständnis

„Ich muss dir eines gestehen, lieber, vielleicht bester, Freund, ach, was rede ich, nicht ‚vielleicht‘, ganz gewiss sogar bester, ja, allerbester Freund. Bitte unterbrich mich nicht, denn das, was ich dir nun darlegen, darreichen, also: sagen, werde, ist keineswegs allzu profan, entbehrt jedoch nicht einer gewissen Simplizität. Es lag mir bereits viele Male auf den Lippen, doch du weißt ja, wie ich bin: ich kann mich nicht immer aufraffen, auch das auszudrücken, was zu sagen ich gewillt bin. Und so war es auch hier. Ich entsinne mich noch des eines Abends, als wir gemeinsam nach einer kleinen Feierlichkeit bei deiner Cousine oder Mitbewohnerin oder Stiefschwester oder dergleichen heimkehrten, auf ein Taxi verzichteten und gerade, sicherlich ermutigt durch den Konsum diverser Alkoholitäten, in Begriff waren, uns näher zu kommen, unsere Freundschaft zu vertiefen, uns gegenseitig Dinge zu offenbaren, die wir voneinander trotz langjähriger Bekanntschaft nicht wussten, wie wir also nach Hause gingen, fast torkelten, möchte ich meinen, wollte ich es bereits sagen, wollte ich mich dir öffnen und auch dieses, vielleicht letzte, Geheimnis aus mir herausreißen und in deine Hände, oder vielmehr: Ohren, legen, weil ich plötzlich erkannte, dass du vielleicht die einzige Person auf Erden bist, der ich vollstes und jederzeitiges Vertrauen entgegenbringe. Doch wie du dich – möglicherweise – noch entsinnst, es ist ja noch nicht allzu lange her, kam dann deine Cousine oder Mitbewohnerin oder Stiefschwester hinter uns hergelaufen und brachte mir meinen Schal, den ich im Eifer des Aufbruchs, bei all dem herzhafen Verabschieden, Küssen und Umarmen, liegen gelassen hatte, brachte den Schal und unterbrach uns, beziehungsweise mich, der gerade in Begriff war, dir das zu erzählen, was zu erzählen ich nun in Begriff bin. Übrigens gab es seitdem noch eine Handvoll Situationen, in denen es nicht unangebracht gewesen wäre, das mir auf dem Herzen Liegende kundzutun, doch meinte es das Schicksal oder der Zufall, je nachdem, woran man glauben mag, mit mir nicht sonderlich gut, und jedesmal fand ich irgendeinen, oft winzigen Grund, nicht weiterzureden, nicht zu sagen, was ich nun sagen werde, nicht auszusprechen, was auszusprechen ich längst willens war. Nun aber soll es raus, ins Freie, soll meinen Schädel und somit auch meinen Mund verlassen, soll ausgesprochen werden und dich finden, soll von dir vernommen und beurteilt werden, und ich hoffe, dass unsere Freundschaft anschließend noch dieselbe sein wird. Oh ja, das hoffe ich, und mehr noch: Ich hege den Hauch einer Hoffnung – verzeih‘ mir diese kleine Alliteration, werter Kumpan – dass unsere Verbindung, die, wie dir sicherlich bewusst ist, bereits mehr als ein Jahrzehnt währt, durch dieses kleine Geständnis, gar vertieft werden wird, dass du mein nicht länger mögliches Schweigen als Beweis meines Vertrauens verstehen und vielleicht sogar in Zukunft mehr denn je bereit sein wirst, mir das deinige zu schenken. Ich will auch nicht länger um den heißen Brei, der, wenn man es genauer betrachtet, gar nicht so heiß ist – und Brei sowieso nicht -, herumreden, sondern nun die Karten auf den Tisch legen, die Wahrheit der eigentlich einzig und allein aus dir bestehenden Öffentlichkeit darreichen. Das, was ich dir all die Zeit, all die Male, von denen ich dir eben nur ein einziges, kleines Beispiel aufführte, sagen, mitteilen, ja, nennen wir es beim Namen: gestehen wollte, war – und es fällt mir wirklich nicht leicht, es hier auszusprechen, und gleichzeitig bin ich doch froh, wenn die Last endlich von meinem Herzen weichen wird, wenn ich mich um dieses winzige Geheimnis, das ich nun schon so lange Zeit mit mir herumtrage, erleichtert haben werde -, das, was ich dir also längst sagen wollte, ist:
Ich verliere nicht gern viele Worte.“
„Ich schon.“

Luft

Nur nicht in Panik geraten! Auf keinen Fall in Panik geraten. Er hatte noch Luft für zehn Minuten, fünfzehn, wenn er Glück hatte, und jede Bewegung war kostbar, jeder Atemzug unwiderbringlich. Er musste ruhig bleiben. Schlafen wäre optimal, würde ihm vielleicht ein paar zusätzliche Minuten verschaffen, doch an Schlaf war nicht zu denken. Er musste hier raus, einen Ausweg finden, es irgendwie schaffen, sich aus dieser Kammer zu befreien. Nein, er brauchte Luft. Befreien konnte er sich immer noch, später, doch das einzige, was jetzt, in diesem Augenblick, zählte, war Luft, Atemluft, Sauerstoff.

Die Kammer war dicht, das wusste er. Er hatte sie selbst entworfen, selbst gebaut, selbst jede Lücke in der Versiegelung überprüft und beseitigt. Und doch musste es eine Schwachstelle geben, irgendeinen Weg, den er bisher übersehen hatte, irgendeinen Punkt, an dem er ansetzen konnte. Aber es gab nichts.

Die winzige Luke, die den Eingang darstellte, war dreifach gesichert. Vierfach, wenn man es genau nahm. Dennoch hatte er sie abgetastet, sowohl im Geiste, als auch mit den Fingern, hatte jede Unebenheit gespürt, war jeden Millimeter nachgefahren, wusste, welches Teil mit welchem zusammenspielte, wo er beginnen müsste, hätte er genügend Zeit und Material.

Doch er besaß nichts davon. Nur Atemluft, einen kümmerlichen Rest Atemuft, und seinen Verstand, sein Wissen, seine unschätzbaren Kenntnisse über diese Kammer, über dieses Verlies, aus dem es kein Entrinnen zu geben schien.

Bleib ruhig, sagt er sich immer wieder, und er spürte, wie die Panik langsam aus seinem Denken wich, wie sich sein Herzschlag verlangsamte, sein Atem abflachte. Alles wird gut, belog er sich, alles wird gut.

Der Kunststoff, der ihn umgab, war aus einem Stück gegosssen. Er bestand aus insgesamt zwölf ineinander greifenden Schichten, allesamt mit menschlichen Händen nahezu unmöglich auch nur zu zerkratzen. Ein Loch, egal wie winzig, zu schaffen, war ein absurder Gedanke, eine schlichtweg lächerliche Möglichkeit.

Und doch musste er einen Ausweg finden, musste es eine Schwachstelle geben. Musstemusstemusste.

Denk nach, forderte er sich auf, biss die Zähne zusammen und dachte, versuchte sich zu erinnern. Doch es kam nichts. Die Kammer war perfekt. Unüberwindbar. Sein Ende.

Sechs Minuten Luft verblieben ihm noch. Vielleicht eine Minute mehr. Sieben Minuten. Jedes Sauerstoffmolekül ward zu einem Schatz, jedes Quentchen unverbrauchter Luft war mit allen Kostbarkeiten der Erde nicht aufzuwiegen. Niemals war Atmen wichtiger, niemals schwerer, niemals Luft so bedeutsam wie jetzt.

Er würde es nicht schaffen. Es gab keine Lösung, keinen Ausweg. Nur noch bange Momente, die Frage, wie lange die Luft tatsächlich reichen würde, das furchtsame Warten auf das Ende. Wird es wehtun?, fragte er sich, und sein Herz schlug wieder ein wenig schneller.

Schhhh, beruhigte er sich. Schhhh. Alles wird gut.

Wenn es schon zuende gehen soll, dachte er, und ein winziges Lächeln stahl sich auf seine Lippen, dann wenigstens mit Stil.

So gut es ihm im Inneren der winzigen Kammer möglich war, machte er es sich bequem. Er knöpfte sein Hemd zu, zog den Krawattenknoten fest, glättete sein Haar. Perfekt, dachte er. Wenn man ihn fand, wäre er wenigstens in Würde gestorben.

Noch ein paar Atemzüge, dachte er, ein paar tiefe Atemzüge, dann war alles vorbei. Er würde sie genießen, beschloss er, er würde lächeln und seine letzten Momente genießen.

Dann kam der Furz. Völlig unerwartet explodierte er aus seinem Hinterteil, füllte innerhalb von Sekundenbruchteilen die gesamte Kammer mit widerwärtigstem Gestank.

Mist!, dachte er noch, verzog angewidert das Gesicht und verstarb.

Die Knitterstirn wölkt mein Antlitz. ,Dies wäre ein guter Moment, sich jedes Beginns zu erwehren.‘, denke ich betrübt und betrachte die Reglosigkeit.

Am Teich

Peter saß am Teich und freute sich seines Lebens. Er war nach der Schule rasch nach Hause gerannt, hatte alle Hausaufgaben in Windeseile erledigt, sich zwei Müsliriegel geschnappt und war dann zum See gelaufen. Der See befand sich in unmittelbarer Nähe zum Haus von Peters Eltern, und wenn die Abenddämmerung hereinbrach, saß Peter gerne an seinem Fenster und lauschte dem vielstimmigen Konzert der Frösche.

Heute aber saß Peter am See. Die Dämmerung war noch fern, und allzuviele Töne waren den Seebewohnern nicht zu entlocken. Hin und wieder blubbte es, wenn ein Fisch nach Luft schnappend durch die Oberfläche stieß, und Peter freute sich schmunzelnd über die Kreise, die sich anschließend auf dem Wasser ausbreiteten und allmählich verebbten. Ab und zu raschelte es im Schilf, und obwohl Peter den Verursacher nicht entdecken konnte, erheiterte ihn der Gedanke, dass dort vielleicht junge Enten Verstecke spielten.

Gerade als er seine gesamte Aufmerksamkeit einer azurblauen Libelle und ihrem eleganten Dahingleiten widmete, höre er es.
„Quaak.“
Peter brauchte mindestens vier Augenblicke, um sich von derLibelle zu lösen und dem Geräusch zuzuwenden.
„Quaak.“
„Ein Frosch!“, rief Peter begeistert, sprang auf und lief zur Quelle des Quakens.
Und tatsächlich: Auf einem mit glitschigen Algen bewachsenenen, vom Teichwasser sanft umspülten Stein saß ein winzigkleiner Frosch und gab ein erstaunlich kraftvolles „Quaak.“ von sich.

Vorsichtig setzte sich Peter und starrte auf den Frosch. Minutenlang geschah gar nichts. Der Frosch, der anscheinend lieber unbeobachtet quakte, schwieg, bewegte sich nicht. Peter, der den Frosch nicht verschrecken wollte und auf ein paar weitere Noten seines Solistenkonzertes hoffte, schwieg ebenfalls und hielt so still er konnte. Und das war ganz schön still, denn Peter hatte in der Schule heimlich geübt.

Nach etwa anderthalb Ewigkeiten aber wurde es Peter zuviel.
„Quaak.“, sagte Peter.
„Quaak.“, sagte da auch der Frosch.
Peter lachte. Der Frosch quakte erneut.
„Wie heißt du denn?“, fragte Peter und lauschte gespannt.
„Quaak.“, antworte der Frosch.
„Quack?“, stellte sich Peter dumm. „So wie der Bruchpilot bei den Ducktales?“
„Quaak.“, verbesserte der Frosch.
„Ach so. Quaak mit zwei A.“
„Quaak.“, bestätigte der Frosch, der, wie Peter nun wusste, Quaak hieß.
„Kannst du noch etwas anderes sagen außer ‚Quaak.‘, Quaak?“, fragte Peter neugierig.
„Quaak.“, meinte Quaak.
„Nein, etwas völlig anderes!“, rief Peter. „‚Quiek.‘ zu Beispiel. Oder ‚Muh.‘. Oder ‚Tätäratäää.'“
„Quaak.“, erklärte Quaak.
„Oder meinen Namen? Kannst du meinen Namen sagen?“
„Quaak.“, sagte Quaak.
„Nein! Ich heiße nicht Quaak! Du heißt Quaak!“, rief Peter. „Ich heiße Peter. Kannst du ‚Peter‘ sagen?“
„Quaak.“, quakte Quaak.
„Nicht ‚Quaak.‘! ‚Peter‘!“
„Quaak.“, quakte Quaak.
„‚Peter‘!“, wiederholte Peter geduldig. „‚Pe-ter‘!“
„Quaak.“, wiederholte Quaak.
„Och.“, seufzte Peter. „Ich dachte, Frösche seien schlau.“
„Schlau, aber keine Papageien.“, antwortete Quaak und hüpfte davon.

Sredowiner Begegnung oder: Ein unlesbarer Text

Ich traf Breschnik in seinem Lieblingscafé „Awtimitow“, „Hütchen“, benannt nach der südpretorgischen Kopfbedeckung, die ihre Verbreitung wohl einzig und allein der schillernden und zugegebenermaßen umstrittenen Gestalt Wassili Panerositschs verdankt hatte, und heute noch, 24 Jahre nach dem Kampf um Trogotew und dem Tod Malitio Antrolis‘, in den Kopfen der Lotograder Bevölkerung perelengutales Freiheitsdenken vertrat. Wassili Panerositsch war ebenso von der Bildfläche verschwunden wie sein Awtimitow, hatte Platz gemacht für Persönlichkeiten wie Freter Julkatow und Singra Glestjenew, die vor allem durch ihr Werk, weniger durch ihr Äußeres, Bekanntheit erlangten. Ich war Julkatow begegnet, zwei Jahre nach den unfreulichen Ereignissen in Sildograd, und er redete noch immer feurig und entschlossen von Umbruch und Aufbruch, von Neugestaltung und Utiliviration, wie damals, als er mit seinem Roman „Vom ungebührlichen Betragen des Wlekodin Walitki“ die Beigeisterungsrufe zahlreicher linkssoziophiler Entropregatisten und den Zorn ebenso vieler Fretizianer auf sich zog. Hätte es Sildograd und Regolewa nicht gegeben, stünde er vermutlich heute an der Spitze der Entropregatisten, der Philohumaner, wie sie sich jetzt nennen, und hielte zornige Reden über die Untaten Zoloptischiks und die Verfehlungen der Regierung Baltokan.

Breschnik saß auf demselbenen eichenen Stuhl in der Ecke des Cafés wie wohl jeden Dienstag, hatte Schriften Feltatows und Renejewks vor sich ausgebreitet, ohne sie jedoch auch nur eines Blickes zu würdigen. Statt dessen starrte er durch die regenverdreckten Scheiben des „Awtimitows“ nach draußen und bewarf die wenigen Passanten, die sich bei diesem Wetter nach draußen wagten, mit verächtlichen Blicken. Ständig drang ein unflätiges Brummen aus dem Bartgeflecht hervor, das seit den Pastrowiner Tagen seinen Mund umkränzte, und zwischen den buschigen Augenbrauen hatte sich eine Zornesfurche tief in seine Stirn gegraben. „Breschnik, alter Freund. Sei gegrüßt!“, rief ich, zog einen Stuhl heran und setzte mich. Breschnik hasste es, wenn man ihn Breschnik nannte. Schließlich war „Breschnik“ die Verballhornung von „breschnowo knowojesk“, „Warzennase“, und er hasste diesen Spitznamen ebenso sehr, wie er alles andere zu hassen schien. Aber jeder nannte ihn nunmal Breschnik, auch wenn sein wahrer Name Anatol Krapatjew war, Anatol Krapatjew, Sohn des ursoletwischen Literaten Kwasor Krapatjew, dem unter anderem die Verbreitung ursoletwischer Ljegtowin-Prosa zu verdanken war und der mit seinen drei Bänden „Sukudow und Das Schicksal der Przeren“ gewissen Ruhm erlangte. In den wilden Baschnakjer-Jahren hatte Breschniks Freund Snetogor Filartschik, Enkel des bekannten Mäzens Rukodan Mesca, ein zwölfzeiliges Gedicht im Walokreder Ruttwa-Boten veröffentlicht, das zwar eigentlich die unzumutbaren Zustände in den Westvierteln Jetuviens anprangerte, aber eben auch den Spitznamen beinhaltete, mit dem sich Breschnik von nun an bestückt sah. Dieser Fehltritt Filartschiks bildete erstaunlicherweise keineswegs den Schlusspunkt der Freundschaft mit Breschnik, doch wird gemunkelt, dass in mit den umstrittenen zwölf Zeilen der Grundstein dafür gelegt wurde, was knapp zwei Jahrzehnte später, beim gemeinsamen Besuch des Hretjokin-Museums in Plarowosk, zu Hass und Bluttat eskalieren sollte. Dass Breschnik überlebte, war anschließend von den zuständigen Ärzten des Marjana-Hospitals in Nowojensk als wahres Wunder bezeichnet worden, doch war es kein Wunder, mit dem Breschnik jemals glücklich werden konnte. In „Flegel aller Dinge“, dem ersten Roman nach achtjährigem Schweigen, ließ Breschnik nicht umsonst Worotin, den tragischen Helden der Geschichte, anstelle seines Freundes Kliran in den Flammen der Optjawejser Bücherei vergehen, ein papiernes Opfer sozusagen und zugleich elegante Antwort auf das, was Putarkin, Ljodasenjew und Ragontschik in jenen Tagen publizierten.

Ich hatte keine Ahnung, ob sich Breschnik meiner entsann. Schließlich war es mehr als sechzehn Jahre her, dass wir zuletzt ein Wort gewechselt hatten. Minschka Palantowa, damals aufstrebende erste Violinistin im Sildograder Kammerorchester, heute Herausgeberin der neofeministischen „Wlaka-Woche“, hatte sich damals erdreistet, Breschniks Gedicht „Vom Beginn der Zanoten“ vor den Augen des Premierministers Hukolow und seiner Gattin zu zerreißen und zu behaupten, es sei nichts weiter als eine präpubertäre Kopie meines Werkes „Antrolawischer Sinnestanz“. Das war es gewiss nicht; vielmehr hatte ich mich eines Gedankens in Breschniks Fabel „Die unbeugsame Flatjana“ bedient und ihn zum Dreh- und Angelpunkt meines in der Fachpresse, insbesondere im „Zükischen Weltboten“, lobgepriesenen Gedichtes „Auch andere in Imiir“ werden lassen. Ich hatte Breschnik mit Entschuldigungen und Wertbekundungen überhäuft, doch Breschnik war – wie so viele Djelitische Kreative – ein Sturkopf und ließ weder mich noch meine wohlwollenden Worte an sich heran.

Ich bestellte einen Murlan-Tee und wartete auf ein Funkeln, ein Wiedererkennen, in den von den Brauen fast verdeckten Augen Breschniks, hoffte gar auf ein Lächeln, darauf, dass der alte Unmut längst vergessen und – wie ich ihn einschätzte – unter neuem begraben war. Vor zwei Jahren hatte ich die neunbändige Reihe „Memoiren eines Katschowniks“ veröffentlicht und sie Breschnik gewidmet, dessen frühes Werk, insbesondere „Die Altanischen Elysien“ und „Am Anfang aller Dinge – zwei Märchen für Rudkowa“, mich nicht nur beeinflusst, sondern gar zu dem gemacht hatten, was ich heute war: Ein Poet, der sich durchaus mit einem Ranrik, einem Hjaltow, einem Krasnitsch, gar mit dem Vermächtnis des altehrwürdigen Turgorows, messen konnte. Nur allzu gern hätte ich aus seinem, Breschniks, bittere Worte murmelnden Mund erfahren, ob er die „Memoiren eines Katschowniks“ gelesen, ob er die Andeutungen verstanden hatte, die ich mit Sorgfalt in das Geflecht des zweiten Kapitels „Kein Zimmer im Hotel Strowna“ eingebunden hatte, ob er gar schmunzelte, als er in der Figur des Teodrow Umniks seinen alten Freund Pjanir Kalanow wiedererkannte.

Doch Breschnik schwieg, hatte selbst sein unaufhörliches Brummen eingestellt, und starrte ins Leere. Ich wollte erzählen, wollte von Pranetan berichten, von Ljento und Breski, wollte von den Gebrüdern Charnaw reden und ihrer der ulsajischen Zensur zum Opfer gefallenenen Roman „Die Verherrlichung der phretischen Falatna“, wollte ausschweifen, ihn mit Worten überschütten, Worten der Verehrung, Worten des Dankes und, ja, noch immer, Worten der Entschuldigung, doch Breschnik schwieg, sah mich nicht an, saß reglos auf seinem Stuhl und schaute nach draußen.

Der Regen hatte sich gelegt, und mein Tee war längst kalt geworden, als ich mich erhob und ging.

Vielleicht

„Vielleicht“, lächelte ich traurig „vielleicht existiere ich nur in deinem Kopf.“
„Wie meinst du das?“ fragte sie, und ihre Stimme klang, als fehlten nur Augenblicke, bis sie völlig eingeschlafen wäre.
„Vielleicht bin und war ich immer nur ein Traum.“, flüsterte ich und küsste ihr sanft den Hals.
„Glaub ich nicht.“, murmelte sie und und schwieg dann.
,Sie schläft.‘, dachte ich und lauschte ihrem Atem.

Sie erwachte vor Sonnenaufgang.
Allein.
Wie eh und je.

Der Schneemann

Auf der beschneiten Wiese stand
im Januar am Waldesrand
ein Schneemann, kalt und ziemlich weiß
völlig reglos – Kopf bis Steiß

So begann ich laut zu denken:
„Ich werde dir nun Leben schenken!“
[wobei ich, während Donner krachte
recht hysterisch „Haha!“ lachte]

Des weißen Mannes Schmunzelmund
sprach mir gut zu. Nach einer Stund
war mein Meisterwerk vollbracht –
und der Mann aus Eis erwacht!

Sein Kohlelächeln war nun echt
[Reden konnte er nur schlecht.]
und in seiner kalten Brust
schlug das Herz. Aus purer Lust

am Leben und am Wirklich-Sein
begann Herr Schneemann sich zu freu‘n
sein Herz schlug heftig, schnell und warm –
schmolz ihn schließlich: Kopf, Leib, Arm.

Und dann

Und dann verstummten alle Uhren. Alle Zeiger verharrten in Starre, und ein Lächeln stähle sich auf mein Anlitz, als kümmerte es sich nicht um Furchenstirn und Zahngeknirsch. Ich stünde im Jetzt, vom eigenen Zaubertrick erstaunt, und wüsste plötzlich, welches Können mir auferlegt wäre, welche Taten darauf warteten, in kommende Wirklichkeiten zu schlüpfen. Ich lächelte, und es bedurfte nur eines Blinzelns, nur eines kurzen Huschens meiner Lider, und jeder Gram wäre meinem Schädel entflohen, jede Sorge zu träumendem Nichts verblasst. Und dann begänne das Handeln, begänne das Geißen und Weben, das Flammen und Wirken. Schmunzelnd entriss ich deinen Schultern jede Last, raubte deinem Glitzern jeden Sudel, tilgte jede Trübnis aus gesternsten Gedanken. Und ich begänne zu pflanzen: Sterne in die Sphären, Monde in die Finsternisse, Namen in die Einsamkeit. Kicherbäume, die dir sanften Zweiges täglich einen funkelnden Frohsinn entstreichelten. Glimmerblüten, die dich mit liebkosender Glut jeder Kälte entführten. Flüsterwinde, die mit Lobpreis und Geleit durchs Haar dir brausten. Zwei Lebsonnen, drei Rauschberge, fünf Wünschwirbel. Jeden noch so trüben Kopfesstrom lichtete ich mit Wattesprudeln, jeden Höhlensumpf mit Hauch und Kuss. Ich erklämme die Bangnis und schenkte ihr Trost, ich tränke die Furcht und spie ihr ein Lachen, ich fing jeden Sturm und zähmte ihn sanft. Meinen Fingern entsprössen seichte Silberstrahlen, wärmenden Gedanken gleich, eine heilende Haut für des Gemütes watende Schritte, ein stillendes Wort für der Seele schaurig Zittern, ein Mantel aus Monden, ein Cape aus Gestirnen, für dich und stets für dich. Und dann, wenn jeder Silbenschwur gegossen, jeder Horizont begleißt, jedes Sinnesweiß geäußert wäre, begänne ich, zwischen Herz- und Wimpernschlägen, zwischen Uhrentick und Uhrentack, zwischen zwei Zügen deines Atems, zu bersten. Jede Zelle, jedes Atom, meines Leibes gerönne zu Licht, zu Strahlen, zu Gleißen, zu Sonnen, zu einem himmelsweitem Lächeln, das als fernstes Rieseln die Zeit aus ihrem Schlummer stupste, die Zeiger fließen ließe und mit huldvoller Obhut dein erwachendes Haupt umkränzte. Alles ist gut, flüsterten die Sphären in deine Sinne, und erstmals wäre es wahr.