Der Kehrling

Ich blickte nach draußen. Mein Atem ließ die Scheibe beschlagen, und unwillkürlich trat ich einen Schritt zurück. Ich wollte keinen Augenblick verpassen.

Und ich musste leise sein, lautlos, bewegungslos, durfte mich nicht zeigen, ihn nicht verscheuchen, nicht jetzt, nicht nachdem es mir endlich gelungen war, ihm zu begegnen, ihn zu sichten.

Ich schmunzelte. Niemand würde mir glauben. Als würde ich versuchen, sie von der Existenz des Yetis zu überzeugen, würden meine Freunde später über meinen Bericht lachen und mit den Köpfen schütteln. Doch ich würde mich erinnern, würde wissen – und dieses Wissen war mir nicht zu nehmen.

Natürlich: Sähe ich ihn nicht dort draußen seiner Wege ziehen, Meter für Meter hinter sich bringen, sich durch den nächtlichen Schnee wühlen, so glaubte ich vermutlich selber nicht daran, dass es ihn gab. Doch es gab ihn. Hier und jetzt.

Ich wohnte gerade anderthalb Wochen in Stuttgart, da hörte ich erstmals von ihm. Flüsternde Stimmen sprachen vom Kehrling, vom Kehrle, gar vom Wochenkehrlsche, von jener Kreatur, die nachts, wenn alle schliefen, heimlich und ungesehen Stuttgarts Fußwege reinigte. Und nicht nur das: Sorgte man sich inmitten tiefsten Winters beim morgendlichen Aufstehen über zugeschneite Pfade, so konnte man sich sicher sein, dass er bereits da gewesen war, dass er mit hochwertigstem Werkzeug Furchen in das bedrohliche Weiß gezogen und somit den Tag gerettet hatte.

Die Eingeweihten versuchten zu verschleiern, so gut es ging. „Kehrwoche“ nannten sie das Ritual, das sie angeblich dazu verpflichtete, die Bereiche vor ihren Häusern und Wohnungen frei von Sudel zu halten. Doch mich konnte man nicht täuschen: Den Kehrling gab es wirklich.

Wie sonst ließ es sich erklären, dass die Straßen so rein, so frei von Unrat und Baumprodukten waren? Wie konnte es sein, dass bereits am frühesten Wintermorgen der Schnee keine Chance mehr hatte, auf den Wegen heimisch zu werden, wo doch niemand, wirklich niemand, die Anstrengungen auf sich nehmen würde, mitten in der Nacht nicht nur körperlich schwer, sondern auch noch lautlos zu arbeiten? Wie konnte es sein, dass Schnee, wenn er tagsüber fiel, nur selten entfernt wurde, doch über Nacht plötzlich begann, die Wege zu meiden? Wie konnte das sein?

Den Kehrling gab es, nun war es sicher. Denn dort draußen lief er, arbeitete er, im schwachen Licht der Laternen nur als Silhouette erkennbar – und doch ganz zweiffellos der Kehrling. Lautlos beseitigte er den wenigen Schnee, der die Frechheit besessen hatte, über Nacht die heiligen Pfade zu befallen, und ich bewunderte sowohl seine Präzision als auch seine Stille. Jeder normale Nachbar hätte alle Schlafenden ihren Träumen entrissen, hätte Beschwerden über den unnötigen Fünf-Uhr-Krach ertragen müssen – doch der Kehrling gab keinen Laut von sich, tat sein Werk, als gäbe es nur dieses.

Ich drehte mich zu meinem Bett um. Eine Stunde blieb mir noch, bis der Wecker Unmengen von Krach um sich werfen würde. Vielleicht sollte ich mich noch einmal hinlegen.

Als ich wieder aus dem Fenster blickte, war der Kehrling verschwunden. Als hätte ihn der frisch beseitigte Schnee plötzlich verschlungen. Nur der Fußweg erinnerte noch an ihn, glimmte rein und unbesudelt im matten Licht des Mondes.

„Bis bald.“, hauchte ich an die Scheibe und ging wieder schlafen.

2 Gedanken zu „Der Kehrling“

  1. wow!
    wie…poetisch. „kehrling“.
    der gute geist, der die fußwege kehrt.
    hier hat´s den auch.
    inclusive 15PS-zweitakt-motorfräse… -.-

    nee, mal ohne sch***.
    das liest sich richtig toll.
    vllt gerade weil´s mal nicht so überdreht ist,
    sondern gedanken hat, die jeder nachvollziehen
    und in der form auch selbst haben könnte.
    das ist wirklich chic.

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