Eines Tages begegnete ich einer Blume. Ich bin kein Botaniker, aber eine Blume erkenne ich, wenn ich sie sehe.
Diese Blume war betrübt. Das war eindeutig.
„Was ist denn los?“, fragte ich.
Die Blume ließ den Kopf hängen, schniefte ein wenig, antwortete aber nicht.
„Was ist denn los?“, fragte ich erneut.
„Das verstehst du nicht.“, nuschelte die Blume.
„Was ist denn los?“, fragte ich ein drittes Mal.
„Hmpf.“, machte die Blume, und ich muss gestehen, dass ich dieses Geräusch noch nie zuvor von einer Pflanze vernommen hatte. „Hmpf!“, machte sie erneut und erklärte:
„Es ist ja so: Seitdem sich mehrfach verglaste Fenster durchgesetzt haben, gibt es im Winter kaum noch Eisblumen. Sie sind zur Seltenheit geworden.“
Die Blume hob den Kopf.„Seltenheiten sind wertvoll. Gold ist nicht deswegen so teuer, weil es so hochwertig ist, sondern weil es selten vorkommt.“
Die Blume blickte mich an, wartete, bis ich ihren Gedankengängen gefolgt war.
„Eisblumen sind wertvoll.“, sagte sie und ergänzte dann ganz leise: „Ich möchte auch wertvoll sein.“
Ich schwieg ein wenig. Das konnte ich ganz gut. Außerdem erhöhte es den dramatischen Effekt.
Dann begann ich zu reden.
„Schau dich um, liebe Blume. Es ist eiskalt. Mitten im Winter stehst du hier und blühst, hebst deinen Kopf und möchtest wertvoll sein. Dabei nicht nur widerstehst du der Kälte, sondern schenkst auch der trüben Winterlandschaft einen zauberhaften Tupfer schönster Farbe.“
Ich schaute auf die Blume, und mir kam es so vor, als hätten sich ihre Blütenblätter zu einem Lächeln ausgebreitet.
„Du bist nicht nur selten, nicht nur wertvoll, sondern wundervoll!“
Die Blume strahlte vor Freude.
„Danke.“, sagte sie.
„Nichts zu danken.“, sagte ich und reichte ihr mein Schokoeis.
„Machs gut, meine Eisblume.“, sagte ich und ging.