Ich ging gerade nach Hause, als ich von oben eine Stimme vernahm: „Hallohallo!“
Mistelzweige sind nunmal so. Sie quatschen einfach drauflos.
„Es ist allgemein üblich, dass man sich unter einem Mistelzweig küsst.“, sagte der Zweig, und für ein Gewächs hatte er eine zauberhafte, fast sinnliche Stimme.
Ich blickte nach oben, und über mir hing nicht nur ein Mistelzweig, nein, dort hin eine ganze Mistel. In voller Pracht.
„Sind Misteln nicht Parasiten?“, fragte ich nachdenklich. „Klebt ihr nicht an Ästen und ernährt euch von dem, was der Baum euch gibt?“
Die Mistel antwortete nicht, ließ mich weiterreden:
„Warum sollte ich auf dich hören? Warum sollte ich das befolgen, was mir jemand sagt, der andere ausnutzt?“
Die Antwort der Mistel ließ nicht lange auf sich warten:
„Es ist eher eine Symbiose. Ein gegenseitiges Geben und Nehmen.“
„Und was gibst du dem Baum?“, wollte ich wissen.
„Nicht ich.“, antworte die Mistel und raschelte mit ihren kleinen Blättern. Sie lachte. Redete weiter:
„Es ist allgemein üblich, dass man sich unter einem Mistelzweig küsst.“, sagte sie.
„Aber wen soll ich denn küssen?“, regte ich mich auf. „Ich bin hier doch ganz allein!“
„Nicht ganz.“, antwortete die Mistel und raschelte erneut.
Zum ersten Mal bemerkte ich den Baum, an dem die Mistel hing. Es war ein großer, schöner Baum, mit gesunden, starken Ästen. Er wirkte sehr sympathisch.
Und er sah aus, als freute er sich darauf, von mir geküsst zu werden.