das wort des tages

… wird wohl „Vorrat“ werden.

in meinen augen sieht dieses alberne substantiv irgendwie absolut falsch aus, wie ein teil aus einer verdrehten welt. ich neige dazu, bei der lektüre dieser buchstabenanhäufung das O im geiste dermaßen kurz auszusprechen, daß der restliche teil des wortes nur noch verkrüppelt und verhunzt hinterherhinken kann. doch selbst jetzt, nachdem ich rechtschreibinformationsquellen gewälzt und mich von der richtigkeit des scheinbar falschen überzeugt habe, bin ich nicht imstande, das wort zu lesen, ohne daß es mir befremdlich vorkommt. ich würde es wohl um ein R reduzieren, wenn ich dürfte. doch erstens werde ich dann auf dem scheiterhaufen zu mißachtender deutschsprachverstümmler gehängt und gevierteilt; und zweitens sieht „Vorat“ mindestens anderthalb kilo alberner aus als „Vorrat„.

was nun? keine ahnung. vielleicht sollte ich das substantiv aus meinem aktiven schreibwortschatz eliminieren und einen alternativen ersatz suchen. vielleicht sollte ich aber auch mein fahrrad mit schwarzer kreide bemalen und einen russischen regenbogen verspeisen. vielleicht aber auch nicht…

stillstand

Wer sich nicht bewegt, erreicht keine Ziele.

dieser satz war in ähnlicher form auf einem flyer von ver.di zu lesen, der mir neulich vor die augen kam. in mir gaben sich der alles-hinterfrager und der aphorismen-ablehner grinsend die hände und freuten sich darauf, diese wenigen worte in der luft zu zerreißen. nur wenig mühe ist dazu vonnöten, nur ein einziges gegenbeispiel, das verdeutlichen soll, daß es in den wenigsten fällen sinnvoll ist, allgemein übliche sprüche zu verfremden, zu erneuern oder in anderes wortgewand zu kleiden, wenn schon das original wenig einfallsreich, womöglich unzutreffend ist und tausendfach kopiert wurde.
ich erschaffe im geiste also die situation, daß mein ziel darin bestünde, mich nicht zu bewegen. von mir aus auch im symbolischen sinne. sofort wird klar, daß der obige spruch somit seine bedeutung und seine allgemeingültige wahrheit verliert und zu sinnlosem dummgeschwafel, zu nichtiger pseudoschläue, mutiert. traurig, aber wahr.
[gäbe es ein fazit, würde ich es an dieser stelle schreiben.]

arztbesuch

ich hätte mir ein buch mitnehmen sollen, eines mit vielen komplizierten zeilen, eines, das meinen geist gefangennehmen würde und von der umgebung ablenkte, eines, das meine eigenen gedanken mit farbenprächtigen buntwelten übermalte. ich hatte keines. ich hatte auch keinen stift, kein leeres blatt papier, das mir die worte aus dem schädel saugte, lustige stichmännchen und kulleraugenwesen entstehen ließt, das geistreiche bemerkungen forderte und danach lechzte, mit meinem kopfkino befüllt zu werden, das mich mit aufreizendem weiß begrüßte und sich mit vollend unterwarf.

ich hatte nur mich, meine augen, meinen kopf. zusammengesackt in meinem mantel, den auszuziehen ich verweigerte, saß ich auf dem stuhl im wartezimmer. würde ich den mantel ablegen, gäbe ich mir selbst wohl zu, daß es noch dauern konnte. das wollte ich nicht. selbstbetrug war schon immer eine meiner herausragenderen fähigkeiten.

ich entdeckte keine zeitschriften, nur unzählige broschüren, die allesamt für rentner oder herzleidende gedruckt zu sein schienen. überall jedoch prangerten mir möglichkeiten zur suchtthearpie, suchtprävention und angehörigenhilfe entgegen, als wollten sie mich verhöhnen. zu spät, dachte ich traurig, viel zu spät.

die plätze neben mir waren frei, blieben frei. es gab nicht viele unbelegte sitzplätze, doch die zu meiner linken und rechten blieben unbenutzt. lag es an mir? sollte mir das zu denken geben? sah ich gar krank aus?

ich wollte nicht krank aussehen, war es nicht. ich war hergekommen, um eine lüge vorzuspielen, die vorzuspielen ich nicht willig war. ich war nie ein guter schauspieler gewesen. und erst recht kein lügner.

in wartezimmern erfreute ich mich gerne der tatsache, ein geduldiger mensch sein zu können. ich konnte warten, konnte mich mit meinen gedanken beschäftigen, mich unterhalten, ohne nur mit einer wimper zu zucken, ohne sinnlos mit den beinen zu wackeln oder mit den händen ständig im gesicht oder den haaren herumzufriemeln. ich beobachtete, was um mich herum passierte, mit wachen augen, mit regen gedanken, mit dem leisen lächeln, das allem galt, was ich für besonderns interessant oder amüsant hielt.

irgendwo in der ferne des hintergrunds dudelte eine entspannungsmelodie, eintönig, ermüdend. immer die gleiche sequenz mit geringfügigen änderungen, unterlegt durch alberne geräscuhe unzähliger wald-, wiesen- und teichtiere. ich lächelte, wenn einer der tierlaute besonders blechern klang oder kurz nacheinander ein specht und ein frosch zu hören waren, deren begegnung ich mit als komisch vorstellte. nach einer weile pausierte die musik, um später wieder einzusetzen – das gleiche lied. pause. lied. pause. lied. immerzu.

neben mich setzten sich zwei vertreter. ein mann, geschniegelt, doch auf ersten blick unsympathisch, und eine frau, die nett aussah und ein paar jahre jünger als ihre begleitung war. die beiden hatten einen termin. der mann versuchte, leise zu reden, doch saß direkt neben mir. sein füstern war eher ein zu worten geformtes dröhnen seiner stimme. fremdwörter flossen aus seinem mund, doch klangen sie eher aufgesetzt als intelligent. die frau hätte lieber ihren mund halten sollen. ihre stimme degradierte sie.

das gespräch drehte sich um dinge, die ich nicht verstand. doch ich verstand, daß der mann meckerte, über andere herzog, altkluge, sinnbefreite bemerkungen machte, sich zuweilen wiederholte und dazu neigte, so zu tun, als gebe er geheimes wissen weiter und wäre allem überlegen. die junge frau dagegen redete weniger, doch wenn sie etwas sagte, gab sie dem mann recht, wiederholte seine worte und schmückte sie ein wenig aus. ständig schaute sie auf die uhr oder zückte ihren terminkalender. immer wieder. das machte mich nervös, ich sah weg.

in wartezimmern ist es grundsätzlich falsch, eine uhr mit sich zu führen. was nützt es mir, wenn ich weiß, daß ich bereits eine stunde wartete? nichts. es führt nur zu unmut. ich dagegen wollte mutig sein. im kopf sprach ich noch einmal die sätze durch, die ich vor der ärztin aufführen wollte. die geflüsterte stimme meines nachbarn störte mich immer wieder, unterbrach mich. ich seufzte, wuselte kurz in meinem haaren herum, um mein ungesundes aussehen zu verstärken, überprüfte geistesabwesend die schnallen an meinen stiefeln.

ungeduldig warteten die beiden unsympathischen vertreter, flüsterten einander unfreundliche bemerkungen über die arztpraxis zu, sobald die schwester den raum verließ. ungeduldig war auch ein mit gehilfen bestückter mann, entschied sich plötzlich dazu, das warten satt zu haben und gehen zu wollen. seine frau widersprach ihm kraftlos „das kannst du doch nicht machen…“, wandt sich hilfesuchend an die beschäftigte schwester. „natürlich kann ich das.“, motzte der genervte aufbruchswillige, zog seine jacke an und ein mißmutiges gesicht. diesen satz wiederholte er, immer wieder ein paar flüche einfügend, mehrmals. die schwester eilte hinzu, verteilte besänftigende worte und vertröstete den warteunwilligen: er sei der nächste. grummelnd nahm dieser wieder platz.

neben mir schaute der vertreter auf seine uhr. eine dreiviertelstunde sei er schon hier. 11 uhr sei der termin gewesen. wozu überhaupt termine vergeben würden, fragte er seine begleiterin, könnte man doch darauf verzichten, wenn man nicht imstande sei, sie einzuhalten. solle doch jeder kommen, wann er lust habe. die junge frau pflichtete ihm bei: das sei tatsächlich effizienter. beide lachten kurz und tonlos. ein blick in den terminkalender: der nächste termin sei bei herrn sommer. der sei wichtiger als die ärztin hier.

die beiden redeten weiter, redeten von ihren geschäften, von tagungen und vorträgen. lauter worte, die eine aufgesetzte wichtigkeit beinhalteten, doch sie nicht glaubhaft vermittelten. firmennamen fielen, abkürzungen wurden benutzt, praxen erwähnt, gemeinsame vergangenheiten herausgekramt, versammlungen, tagungen, blablabla. bestärkt durch den unut des mannes, beschloß die frau, noch zehn minuten warten zu wollen. mehr nicht.

ich hielt meinen mund, sagte nicht, daß ich bereits mindestens eine halbe stunde länger warten würde, sagte nicht, daß menschen, die ärzte besuchten, in den meisten fällen auch gründe dafür hatten, sagte nicht, daß der vorhin eingelieferte notfall vermutlich größere dringlichkeit hatte als irgendein vertretergespräch, sagte nicht, daß mir die permanente ungeduld mißfiel.

nach zwei minuten stand die vertreterin auf und suchte die schwester, berichtete von ihrem vorhaben, wurde vertröstet: sie sei die nächste. verwundert setzte sie sich wieder, wiederholte die worte der schwester. der mann war sprachlos. ich auch, hieß das doch, daß ich nicht nur die patienten, die bereits vor mir eingetrudelt waren, abzuwarten hatte, sondern auch das beratergespräch.

ich seufzte leise, versuchte vergeblich in meinem kopf die zurechtgelegten worte zu finden. ich wollte nicht lügen, beschloß, die wahrheit zu sagen, genau das, was mir in jenen augenblicken auf die zunge springen würde.
das vertretergespräch war kurz. danach folgten noch ein paar patienten. die anderen wartenden im raum verharrten schweigend. nur einer von ihnen hielt eine zeitschrift in der hand, blätterte sie oihne interesse durch. eine ältere dame wischte sich immer wieder mit einem papiertaschentuch im gesicht herum, nase, augen, lippen, pause, wieder von vorn. das telefon klingelte immer wieder. im hintergrund erklang die eintönige meldoie. beschäftigt wirbelten die schwestern umher, doch sie wirkten ruhig. das gefiel mir.
während eines telefonates gab mir eine schwester mit einem kopfnicken zu verstehen, daß ich nun an der reihe sei.

ich hatte die ärztin anders in erinnerung. unsympathischer. ich faßte mir ein herz und schilderte meine sorgen. das schauspiel ließ ich weg. die lügen auch. die ärztin zögerte, unterhielt sich mit mir. freundschaftlich. interessiert. ich gab zu verstehen, daß mir diese situation auch nicht gefiele, doch bemerkte, daß sie sich schon durchgerungen hatte, das rettende attest auszufüllen. ich redete weiter, tat so, als hätte ich nichts bemerkt. doch sie schrieb schon, lächelte nett, wünschte mir alles gute, gab mir die hand.

ich hatte es überstanden. ohne lüge.

kaum hatte ich die praxistür hinter mir geschlossen, drängte es mich hinfort. ich konnte gar nicht schnell genug rennen, wollte weg. noch einmal hatte ich einen ausweg gefunden.

doch konnte ich nicht ewig fliehen.

der morgendliche wurm im ohr 9

nachdem mein rechner sich entschieden hatte, während des letzten geschriebenen textes jegliche anwendung als inexistent zu verleugnen und einen neustart herauszufordern, der meine zeilen dem unwiderbringlichen nichts übergeben und für alle zeit verschwinden lassen würde, verzichte ich nun auf eine wiederholung meiner selbst, sondern erwähne nur schnell die beiden heutigen morgenohrwürmer.

ersterer war mir schon während des aufwachens im kopf, zweiterer gesellte sich erst später dazu. beiden ist gemeinsam, daß schon mehrere tage vergangenen sind, seitdem ich die lieder letztmals vernahm.
mir fällt jedoch gerade auf, daß ich mich nicht mehr des ersten ohrwürmchens entsinnen kann, nur noch weiß, daß es ein metallischer war, womöglich von danzig . beim zweiten handelt sich aber gewißt um

annett louisan – „daddy“.

Doch ich mach all diese Fehler, Daddy
Und finde überhaupt keinen, den es stört.

wiedersehen

das wiedersehen war kurz und doch zu lang.
wie schwer doch stille wiegen kann.
ich erinnere mich daran, noch gestern dein foto geküßt zu haben.
jenes bild, auf dem du lachend aus meinen armen auftauchst.
doch die, die ich küßte, war eine andere.
warst nicht du.
irgendwie.

wir versuchen, die last des schweigens mit einem lächeln zu vertreiben.
wir versuchen, themen zu finden, die wir kennen.
wie versuchen, einander zu finden.
doch die vergangenheit trennte uns.
in der gegenwart bleiben narben und klüfte zurück.
ich lächle dir zu, doch du weißt, daß ich lüge.

dein mund äußert bedauern.
„wir sollten mal wieder etwas zusammen machen.“
ich stimme dir zu, doch sehe mich schon in mein schneckenhaus zurückkriechen.
die wirklichkeit soll mich nicht finden.

das war alles.
wenige worte, die so unendlich schwer waren, daß sie noch immer am boden herumkriechen, ohne gefunden zu werden.
bilder, auf denen wir aus irgendeinem unverständlichen grund lachen.
eine leere, die nicht befüllt werden kann.
vage gesten, die wohl nichts bedeuten.

die vertrautheit zerbrach längst.
irgendwann hatten wir uns verloren.
der schein der freundschaft schmerzt.

waren wir einander immer schon so fremd gewesen?

betrübt blicke ich dir nach.
irgendetwas in mir vermißt das mädchen auf dem foto.
das mädchen, das du längst nicht mehr bist.
vielleicht nie warst.

zäsur

zum zweiten mal an diesem tag überkommt mich der wunsch nach einer zäsur.

ich möchte die augen schließen und für einen augenblick lang mir selbst entfliehen, irgendwohin, wo ich nicht ich bin, wo ich nicht denke, wo ich nicht weiß, wo ich keinen grund zur furcht mit mir herumschleppen muß. ich möchte die augen schließen, um irgendwann wieder zu erwachen, das trübe vergessen, mit frischem elan den neuen momenten begegnend.

vermutlich sind diese gedanken nur eine illusion, der ich mich hingebe, ohne daß sie in der wirklichkeit bedeutung besitzt. vermutlich werde ich in altem trübsal erwachen, neuerlich müde, neuerlich erschöpft und mit meiner existenz belastet. vermutlich.

doch meine anwesenheit im jetzt gleicht einem ziellosen herumdümpeln, auf ein niemals eintreffendes unding wartend, das zu benennen ich noch nicht einmal imstande bin. mit jeder sekunde, die vergeht, steigt mein unmut, meine traurigkeit, zerrt mich mein dasein tiefer in die düsteren gefilde des eigenbedauerns. ich will das nicht, beobachte mich in meinem fall und störe mich daran. doch die weigerung, die ablehnung all dessen, was geschieht, verstärkt es nur. jeder sich in mir regende unmut gesellt sich zu dem bisherigen und mehrt diesen. ein kreis, aus dem es kein entkommen geben kann. kein entkommen, aber vielleicht eine pause, ein neuanfang, eine zäsur.

die erste stille war kurz, zu kurz, um meine erschöpfung zu beseitigen. geschlossener sinne weilte ich unter weichem tuch und ließ die wärme mich davontragen. ein klopfen entzog mich meiner dämmerung, zog mir sanft die augen auf. ich ließ herein, was mich erfreute: eine begegnung mit dem lächeln. wenige worte flossen durch den abgedunkelten raum, zwei hauchzarte berührungen wurden verschenkt. dann war es vorbei, ich blickte dem leuchten hinterher und erhob mich lächelnd.

doch mein weg im jetzt war kurz. bald schon fand mich mein inneres, vertrieb meine leuchtende krone, verscheuchte das unwirkliche. in meinem schädel wächst das trübsal. ich spüre die wolke, die meine sinne vernebelt, die mich verdunkelt, mich von innen mit tränen begießt. was verbleibt, ist der wunsch nach ruhe, vielleicht auch der wunsch nach menschen, nach worten. vielleicht sollte ich meine augen erneut schließen, mein haupt in weiche träume betten und darauf hoffen, daß später alles besser sein wird…

der morgendliche wurm im ohr 8

rotkäppchen: „warum schaust du denn so betrübt?“
ich: „weil ich mal wieder gegen einen baum lief und das erst bemerkte, als ich blutend am boden lag…“

vielleicht bemerkt man zuweilen schon von vorneherein, daß ein tag nur schlecht werden kann, vielleicht versprüht der tag sein gift schon in die morgenstunden und läßt einen erahnen, welches übel noch bevorsteht. vielleicht jedoch legt man bei einem unangenehmen morgen im geiste selber fest, wie dieser tag zu verlaufen habe, definiert ihn als „schlecht“, weswegen er gar nicht anders kann als so zu werden.
ich versuche ja aufzusehen und darauf zu warten, daß die sonne, die durch mein fenster lugt, auch mein gemüt zu erhellen weiß, doch der zweifel in mir ist stark.

in den letzten beiden tagen kroch morgens stets ein kleines würmchen durch meinen gehörgang. doch seine erwähnung ist wenig spektakulär, waren es doch lieder, die ich am vortag bewußt und teilweise mehrmals vernommen hatte.
heute jedoch spukte mir ein song von empyrium im schädel herum. allerdings stellte ich dies erst fest, nachdem ich schon mehrere minuten unter den aufrecht gehenden wandelte. das wiederum führte mich zur wiederholung einer beobachtung, die mich schon einige male aufblicken und nachdenken ließ: nicht selten huscht das morgendliche lied erst im letzten moment in mein ohr. werde ich also geweckt und döse anschließend noch ein paar augenblicke, kann ich darauf wetten, daß zum zeitpunkt des weckerklingelns mein schädel liedfrei ist, daß ich aber nach dem dösen ein paar klänge in mir finde. das wiederum läßt den logischen schluß zu, daß irgendwelche gedanken, die mich in morgendlicher trägheit heimsuchen und vom kommenden künden oder über das gewesene berichten, in meinem geiste mit liedern assoziiert und zu morgendlichen würmern gewandelt werden. wer weiß.

Zugfahrt

Der Zug ist leer. Um diese Uhrzeit fährt wohl niemand mehr. Nur eine Handvoll Leute leistet mir Gesellschaft, doch flüchtet sich in verschiedene Abteile, sucht die Isolation von den Anderen, den Fremden. Es ist der letzte Zug. Ich bin froh, ihn erreicht zu haben, lasse mich nieder und freue mich darauf, bald endgültig zu Hause sein zu könen. Ein Türke fragt mich nach einem Wochenendticket. Ich habe keines. Merkwürdigerweise schäme ich mich dafür.
Das Abteil gehört mir alleine. Als der Zug anfährt, wechsele ich den Sitzplatz.

Draußen hinter der Scheibe entdecke ich nur Dunkelheit. Das Rattern des Zuges beruhigt mich. Meine eigenen Worte beruhigen mich. Ein Schaffner kontrolliert meinen Fahrschein. Seine Höflichkeit erstaunt mich und wird von mir erwidert. Ich verkrieche mich wieder in meine Gedanken. Der Türke kehrt zurück, berichtet mir von seiner erfolgreichen Flucht vor dem Schaffner. Ich lächle, gebe ihm recht, weiß nicht, ob er immer so offen ist oder getrunken hat. In seinem Stoffbeutel klirrt es verdächtig gläsern. Es ist mir egal. Wieder allein beiße ich in einen Apfel, lese ein paar Zeilen in einem Buch, das ich längst kenne, doch von dem zu fesseln ich immer wieder bereit bin.

An der Scheibe klebt der Handabdruck eines Kindes. Fasziniert setzte ich meinen eigenen daneben und betrachte die beiden eigenartigen Kunstwerke. In einem anderen Abteil beginnt der Türke zu singen. Laut und nicht wirklich begabt. Ich verstehe kein Wort, doch grinse vergnügt. Als abzusehen ist, daß der fremdartige Gesang nichtaufhören wird, vertiefe ich mich erneut in meine Lektüre.

Vielleicht war heute ein guter Tag.

Nächtliche Reflexion

Der Tag war angefüllt mit wundersamen Ereignissen. Zu spätester Stunde in einem leeren Zugabteil sitzend, in die Unsichtbarkeit der Außenwelt hinausstarrend, doch trotzdem nur nach innen hineinsehend, versuche ich, meinen Geist zu beruhigen und die widersinnigen Stimmen in meinem Schädel zum Schweigen zu bringen. Ich bin mir der Ignoranz bewußt, die ich mir selber aufzuerlegen gedenke, bemerke den Widerstand in mir gegen die äußere Ruhe und das einlullende, regelmäßige Rattern des Zuges. Doch mehr noch als alles andere wünsche ich mir in diesen Augenblicken, vor mir selbst zu fliehen und der Andeutung eines Lächelns, das sich in meinem Mundwinkel versteckt, nachzujagen.

Mich bedrängt das schlechte Gewissen des unausweichlich Kommenden, der erneut gewagte Versuch, einen richtigen Pfad vorerst nicht begehen zu wollen, das Morgige in die unbestimmte Ferne der Zukunft zu verschieben. Ich weiß, daß falsch ist, wie ich handeln werde – und doch scheint es mit der beste, ja vernünftigste, Weg zu sein, davon ausgehend, daß auch dieser zu einem Ziel, zu meinem Ziel führt (obgleich ich mir im Unklaren darüber bin, ob das Ziel wahrlich meines ist). Das schlechte Gewissen und die damit einhergehende Ungemütlichkeit, das unmerkbare Zittern meiner Hände, die vielen Gedanken voller Furcht, vermag selbst die Gewißheit, nicht zu vertreiben, den heutigen Tag mit einer guten Tat gefüllt zu haben.

Das Wissen dämpft das Gewissen, doch nicht genug. Trotzdem bin ich geneigt, mir – ohne selbstpreisend agieren zu wollen – ein lobendes Wort zu schenken, weil ich mir heute selbst bewußt machen konnte, woraus in meinen Augen wahre Freundschaft besteht: Im richtigen Moment alles Eigene stehen- und liegenlassen zu können und sich vollends dem anderen zu widmen. Ich bin gewiß ein wenig stolz, dergleichen getan zu haben und jederzeit wiederholen zu würden, doch mischt sich die Scham über den Stolz und darüber, womöglich eine Art Überposition gegenüber dem Hilfe-Ersuchenden einzunehmen, in meine Gedanken und trübt sie ein wenig.

Eine ältere Photographie brachte zudem Wirbel in mein Denken. Denn mit ihr verspürte ich die immense Wucht der völligen Rückkehr der Sehnsucht, die stets in mir gewohnt hatte, doch verdeckt war durch das Ersehnen des Vergangenen. Nun jedoch, da das Vergangene langsam aus meiner Seele herausgeblutet ist, nun jedoch, da nicht nur der Verstand, sondern auch das Herz die Unmöglichkeit des Unerreichbaren erfaßte, öffnen sich meine Augene wieder, und ich beginne zu sehen. zu suchen und zu träumen. Nie verlor ich den Traum, doch verlor ich ein Gefühl der Leichtigkeit, ein gefühl, das meine tiefsten Regungen von Trauer und Schmerz loszulösen wußte. Ich verlor die Fähigkeit zu fliegen, blickte nur stets vom Grunde hinauf zu den gegflügelten Wesen über mir, beweinte ihre Ferne und leckte meinen gebrochenen Schwingen. Doch nun vermag ich zu lächeln, ohne die Träne der Vergangenehit zu spüren. Was war, ist nicht vergssen, wird nie vergessen werden, war viel zu schön, erfriff mich zu sehr, um es noch loslassen zu wollen, zu können, doch die Möglichkeiten des Gegenwärtigen ergreifen von mir Besitz und öffnen mein Herz für eine traumhafte Leichtigkeit.

Vielleicht ist es einfach nur der nahende Frühling, der mich lockt. Wer weiß. Doch in mir wogt ein Lächeln, eine Liebe, die ich lang vermißte, eine Liebe, die den Dingen gilt, die allem gilt, die sich nicht in einem Punkte konzentriert, nicht in einem Wesen manifestiert, sondenr überall winzige Spuren zu bestaunender Existenz hinerläßt. Ich vermag aufzusehen und der grauen Zukunft ins Anlitz zu schauen, wissend, daß irgendwo mein Leuchten wartet.
Draußen zieht unbemerkt die Nacht an der Scheibe vorbei. Im Geiste küsse ich die Gesichter der Vergangenheit. Ich spüre, daß ich sie liebe, spüre, daß ich das Leben liebe, heiße mich willkommen in einer unwirklichen Zauberwelt, die nur einen Atemzug lang Bedeutung haben wird, solange, bis die Schatten der Realität sie vertreibt, zersplittert.

Ich fürchte mich vor dem Dunkel, das dort draußen lauert, fürchte die Möglichkeiten, fürchte die Zukunft. Doch halte ich fest an der Gewißheit, daß alles gut zu werden vermag, daß meine Pfade die richtigen sein, daß mir stets leuchtende Wesen beiseite stehen werden, daß ich in keinem Augenblick allein und trostlos bin.

Ich blicke hinaus. In der Ferne funkeln müde Lichter. Der Zug rattert träge vor sich hin, betäubt mich mit Stille. In der spiegelnden Scheibe entdecke ich ein Lächeln auf meinem Gesicht.

Ich heiße es willkommen.

Kleinigkeiten

Vielleicht sind es nur Kleinigkeiten, winzige Splitter einer gläsernen Sonne, die ich ersehne; vielleicht aber ist es ein Leben.

Ich wünsche mir, mit geschlossenen Augen geküßt zu werden – aus dem Nichts heraus, wünsche mir, eines deiner langen Haare auf meinem Bettlaken zu finden. Ich möchte deinen Duft in meiner Kleidung finden, möchte bei jeder Gelegenheit, bei jedem Musikstück, an jeder Straßenecke, an dich erinnert werden. Ich möchte einschlafen mit den Gedanken bei dir. Ich sehne mich danach, mit meinen Fingern den Linien deines Körpers zu folgen, mit geflüstertem Wort dein Lächeln zu wecken. Ich möchte im Nirgendwo plöztzlich aus dem Auto aussteigen, dich in den Arm nehmen und wissen, daß ich genau hier richtig bin. Ich möchte, daß du dich beschwerst, wenn meine Stoppeln beim Küssen stören, möchte ein lautloses ‚Bis bald.‘ von deinen Lippen klauben, wenn du gehst. Ich möchte für einen Moment meine Gedanken in deine Hände legen, die Welt vergessen und nur dich behalten. Ich möchte mich der heimlichen Tränen erfreuen, die sich bei schmalzigen Filmen in mein Gesicht stehlen, möchte, daß du an mich rückst, Bestätigung suchst, daß mit uns alles gut sei. Ich sehne mich danach, dir deinen Mantel abzunehmen und deine Schönheit still zu bewundern. Ich möchte vo dem Spiegel deinen Nacken küssen, dich umschlingen und halten. Ich wünsche mir, du stündest hier, meiner Begegnung harrend, wünschte, den Klang deiner Schritte vor der Haustür erkennen zu können. Ich möchte Briefe an dich schreiben und mich unzählige Male am Telefon verabschieden, möchte das Kind in dir finden und die Frau in die begehren. Ich möchte dich betrachten, wenn du schläfst oder dich anziehst, möchte deine Hand nicht loslassen müssen. Ich wünsche mir das Feuer in deinen Augen blitzen zu sehen, wenn du für etwas Begeisterung empfindest, wünsche mir, mit dir fühlen zu können. Ich möchte dich durch das Herbstlaub jagen, auf saftigen Wiesen fangen, dich unter Wasser küssen. Ich möchte dich schüchtern fragen, ob du mich schön findest, möchte mir Mühe geben müssen, pünktlich zu sein. Ich möchte dein Lachen vernehmen, wenn dir der Wind das Haar ins Gesicht weht, möchte ohne Worte ahnen, was du denkst. Ich sehne mich danach, im Winter deine Hand in meine Tasche zu stecken und zu wärmen, sehne mich danach, die Namen deiner Plüschtiere zu kennen. Ich sehne mich danach, sprachlos vor Freude zu sein und für dich jede Spinne des Zimmers zu verweisen. Ich möchte mit dir einkaufen gehen, mit den Fingern über deinen Lieblingspullover streichen, dir ein T-Shirt leihen. Ich möchte zu viele unscharfe Fotos von dir besitzen und deinen Namen im Meeressand schreiben. Ich möchte…

Vielleicht möchte ich einfach nur lieben.