Antiquiert und ausgestorben

Ich hatte Glück. Die nahezu magische Aura meiner Mitbewohnerin sorgte mal wieder dafür, daß die richtige Straßenbahn zum richtigen Zeitpunkt eintraf. Wir setzten uns einander gegenüber, und ich bekam die Möglichkeit, die beiden Personen zu betrachten, die sich gerade hinter meiner Mitbewohnerin plaziert hatten.

„So.“, sagte die Oma, eine Standardfloskel benutzend, „Das hätten wir auch noch geschafft.“
Ihr Enkel, ein vielleicht Acht- oder Neunjähriger mit leicht hervorstehendem Oberkiefer und dunkelblauem Basecap nickte unbeteiligt. Doch während er Fahrt taute er auf, begann zu erzählen.

Er hatte einen Sprachfehler. Sein „Sch“-Laut klang stets wie ein stimmloses „S“, ebenso sein „Z“.
„Neulich waren wir bei der Polisei.“, wußte er zu berichten.

Ich verstand nicht jedes Wort; das Rumpeln der Straßenbahn übertönte das meiste. Doch dann vernahm ich einen vollständigen Satz aus seinem Mund:
„Jetst gebe ich keinen einsigen Grossen mehr aus.“

Mich verwunderte nicht länger seine Aussprache, die „einzigen“ zu „einsigen“ und „Groschen“ zu „Grossen“ formte, sondern einzig und allein die Verwendung des Wortes „Groschen“.

Warum sagte er nicht „Pfennig“ oder „Cent“? Warum „Groschen“, jenes antiquierte Wort, das sich schon vor der Einführung des Euro bereits aus dem allgemeinen Sprachgebrauch zurückgezogen hatte, aber spätestens danach nur äußerst selten anzutreffen war, nur noch dort, wo man zuweilen noch immer Euro mit D-Mark oder gar Mark verwechselte.

Das veraltete Wort „Groschen“ in dem Mund des Jungen wirkte befremdlich und brachte mich zum Staunen.

Nicht minder jedoch staunte ich über das, was er aus einer Müller-Plastiktüte hervorkramte.
„Jetst habe ich mein eigenes Tamagotsi!“, freute er sich mit einem Glitzern in den Augen.
Und tatsächlich: Es war noch orginalverpackt, aber eindeutig ein Tamagotchi!

„Ich wußte gar nicht, daß es die wieder gibt.“, murmelte ich vor mich hin.
„Ich dachte, die wären längst ausgestorben.“