Menschen 16

Die blinde Frau mir gegenüber schließt die Augen. Plötzlich sieht sie normal aus, nicht länger fern dieser Welt.

Ihre Ohren sind bedeckt von altmodischen Kopfhörern. Verwundert betrachte ich sie, ist doch nun nicht nur durch ihr fehlendes Augenlicht, sondenr auch durch die betäubten Hörsinne von der Wirklichkeit abgetrennt, weilt sie doch nun vollends irgendwo in der Unerreichbarkeit – und wirkt sie doch nun näher, greifbarer als noch zuvor.

Rassenpräferenz

Als ich das Abteil betrete, fällt mir ein riesiger weißer Hund ins Auge. Er hat es sich auf dem Boden bequem gemacht, zusammengerollt, den Kopf auf Vorderpfoten gebettet. An seiner Leine ist ein Aufnäher befestigt: „Blindenhund“.

Erst jetzt bemerke ich seine Besitzerin, eine blonde Frau, vielleicht 30, von angenehmer Schönheit. Ihre Augen sehen in die Ferne, ins Nichts, ihre Blicke sind nicht zu greifen. Ich bin fasziniert. Als ich mich niedersetze, reagiert sie nicht. ‚Sie hört mich.‘, denke ich, doch ihre Blicke bleiben fern.

Neben mir sitzt sich ein älteres Ehepaar gegenüber, unterhält sich angeregt. Zur linken des Mannes steht ein Korb, mit einer Decke gefüllt. Erst beim zweiten Hinsehen entdecke ich den Hund im Inneren des Korbes, ein putziges, winziges Wesen mit übergroßen Ohren, das zum Streicheln und Liebhaben einlädt.

Mit Erstaunen vergleiche ich die beiden Hunde, die mit mir das Abteil teilen, sind sie doch der gleichen Tierart zugehörig und trotzdem enorm verschieden:
Das kleine, unscheinbare, knuddlige Fellknäuel, das für Streicheleinheiten auserkoren zu sein scheint, und den majestätischen, riesigen, weißen Blindenhund, dessen Existenz einer wahlich gewaltigen Aufgabe gewidmet.

Ohne Verwunderung stelle ich fest, wie eindeutig meine Sympathien verteilt sind, wieviel Respekt ich dem größeren Tier bereits zolle.

Unten

Ich kann mich nicht mehr genau daran entsinnen, wann ich zum ersten Mal beschloß, nicht die obere Etage des Zuges zu bentuzen, sondern in diesem S-Bahn-artigen Gefährt im Erdgeschoß zu verweilen. Ich kann mich auch nicht mehr genau der Gründe entsinnen, die mich zu dieser Entscheidung bewogen, doch vermute, daß es etwas mit der Behaglichkeit der kleineren Abteile zu tun hatte, mit der vermeintlichen Ungestörtheit, die man „unten“ erfahren konnte.

Und so begebe ich mich, sobald mein Zug am Bahnsteig eingefahren ist, stets an dessen Ende, an die letzte oder vorletzte Tür, betätige den Öffner und steige ein. Hier bringen Radfahrer ihre Räder unter, nehmen auf klappbaren Sitzen Platz.
Ich gehe weiter. Nirgendwo ein Raucherabteil in Sicht, dessen unappetitliche Ausdünstungen meine Atemluft bevölkern könnten.

Ich lächle stumme, öffne die Tür zu dem kleinen Abteil. Es ist bereits gefüllt. Die beiden Viererplätze, von denen ich mir normalerweise einen sichern kann, sind belegt. Doch auf den restlichen vier Doppelsitzen hat sich noch niemand niedergelassen – ich habe die freie Auswahl.

Ein kurzer Gedanke an die Fahrtrichtung, und auch ich habe meinen Sitzplatz gefunden, ziehe das Jacket aus, friemle das Musikabspielgerät aus der Tasche und stöpsle mir die kopfhörer ein. Kaum habe ich mich gesetzt, erklingt hinter der Musik in meinen Ohren eine unverständliche Durchsage, und der Zug setzt sich langsam in Bewegung.

Draußen regnet es.

In Gedanken versunken zücke ich meinen Notizblock und versinke in wohlige Behaglichkeit.