Lernstörung

Ich will/sollte lernen.
Und da ich unfähig bin, mich an heimatlichem Schreibtisch nicht abzulenken, mich nicht mit allerhand Nebensächlichem zu beschäftigen [und man darf erstaunt sein, wieviele es davon gibt], begab ich mich auf den Weg zur universitätseigenen Bibliothek, wo zwar wenig Stille zu finden ist, aber immerhin eine Atmosphäre, die einen zum Lernen anspornt.

Leider entschloß ich mich zu spät zu diesem Weg, weswegen die Mensa auf dem Uni-Campus bereits geschlossen hatte und ich ungesättigt die Bibliothekspforten zu durchqueren hatte.
Sollte ich nicht lieber heimkehren oder irgendwohin, wo Nahrhaftes auf mich wartete? Nein, dachte ich, jetzt ziehe ich es durch!

Der nächste Schock wartete nicht lange: Wo ist mein
Einkaufswagen-Bibliotheksspind-Metallchip? Ich fand ihn nicht, fand auch kein Eurostück, das mir aus der Patsche hätte helfen können. Eigentlich hatte ich überhaupt kein Bargeld dabei, verwehrte mir somit auch jede Geldwechseloption.
Eine weitere Enttäuschung, die mich hätte erschüttern, vielleicht vom Lernen abhalten sollen.

Doch ich gab nicht nach, wühlte minutenlang in den unerforschten Tiefen meines Rucksacks und beförderte ein 2-Euro-Stück hervor, das ich lächelnd im Sonnenlicht blitzen ließ.
Forsch erklamm ich die wenigen Stufen, die mich vom Bibo-Café trennten und erwarb nicht nur eine durststillene, kühle Cola, sondern auch ein nützliches Ein-Euro-Stück.

Zurück zu den Spinden, dachte ich mir und rannte die Treppe wieder hinunter. Die Nummer 23 wählend warf ich mein neuerworbenes Eurostück ein und erfreute mich das angenehmen Klackergeräuschs.
Dann packte ich meine Lernutensilien – inklusive eines netten Ablenk-Comics – aus, doch mußte feststellen, daß das einzige Schreibgerät, das ich hervorzaubern konnte, ein – meiner Erinnerung nach – nutzloser, da mit geleerter Mine bestückter Kugelschreiber war.
Nun war der rechte Zeitpunkt gekommen, um aufzugeben und heimzukehren. Das Schicksal hatte es nicht anders gewollt.

Aber ich entsann mich, bei meiner Rucksack-Münzwühlaktion vorhin etwas Stiftähnliches gespürt zu haben, kramte erneut wie wild herum, förderte den gesamten Rucksackinhalt zutage – und mit diesem auch zwei Kugelschreiber.
Irgendeiner von denen muß doch funktionieren, dachte ich, und packte alle drei verfügbaren in meinen Korb, wo schon die Cola und die restlichen Lernutensilien auf mich warteten.

Flugs erstürmte ich die Stufen, betrat den eigentlichen Bibliotheksbereich. Zwei Studentinnen kamen mir entgegen, die ich kannte und mochte. Ein Smalltalk war unausweichlich – doch das war die erste Verzögerung, die mir behagte.

Kaum waren die Abschiedsworte gesprochen, wurden die zwei Eingangswächter auf mich aufmerksam. Die beiden haben den gesamten Biblitohekstag nichts weiter zu tun, als am Eingang zu stehen und darauf zu achten, ob die bösen, bösen Studenten nicht heimlich Rucksäcke oder Nahrungsmittel mit einschleusten.

Nun ja, normalerweise steht dort nur eine Person:
Ein übergewichtiger, kahlköpfiger Brillenträger, den ich noch nie einen Laut habe sagen hören, oder eine blondierte Mittfünfzigerin, die zuweilen recht streng blickt.
Sie stehen herum, zumeist in der Nähe eines Tisches, auf dem diverse Informationsbroschüren über Bibliotheksverhaltensregeln ordentlich gestapelt liegen.
[Ich habe übrigens niemals jemanden bemerkt, der eine solche Broschüre in der Hand hielt oder sich auch nur ansatzweise dafür interessierte.]

Die blondierte Frau trat auf mich zu:
„Moment.“
Ich blieb stehen.
„Haben Sie dort etwa eine Flasche?“
Ich versuchte es gar nicht erst zu leugnen, gab es unumwunden zu; schließlich hatte sie die Colaflasche bereits durch die Korbritzen ausmachen können.
Normalerweise wurde das nicht bemerkt, denn mein Korb war für gewöhnlich recht voll, ich bewegte mich zumeist recht rasch, und die Augen des Mannes sind träge.
„Ja, durchaus.“, antwortete ich. „Für nachher.“
„Das ist aber nicht erlaubt.“
„Ich weiß.“, seufzte ich ergeben.

Nun wurde der Brillenträger aufmerksam, empörte sich.
„Hoho.“
Viel mehr brachte er nicht heraus angesichts der ungeheuren Frechheit, die ich zu begehen gewagt hatte.
Ich drehte mich um und brachte, in mich hineingrummelnd, die Flasche in meinen Spind. Treppe runter.

Noch während ich an meinem Spind stand, zögerte ich:
Sollte ich nun endgültig aufgeben, nun nachdem ich mehrere Male mutwillig von meinem Vorhaben, endlich ein wenig zu lernen, abgehalten worden war? Sollte ich das Schicksal obsiegen lassen und heimkehren, im Geiste allen Hindernissen meinen Mittelfinger zeigend?

Nein!, dachte ich energisch und eilte treppauf in die Bibo zurück, an den beiden Wächtern vorbei, die diesmal auf meine Ehrlichkeit zu vertrauen schienen und mich keiner Leibes- bzw Korbesvisitation unterzogen, die Stufen hinauf in die erste Etage, wo ich meinen Sitzplatz finden wollte.

Doch noch bevor ich diesen erreichte, begegnete mir S. Ich kann S nicht leiden, will ihn nicht sehen, nichts von ihm wissen, erst recht nicht mit ihm reden. Er nervt mich, seitdem ich ihn erstmals sah.
Grinsend begrüßte er mich. Leise grüßte ich zurück, gab den Anschein äußerster Eile, konzentrierter In-Mich-Selbst-Gekehrtheit. Er hakte nicht nach, ging weiter.
Ich atmete auf.

Dann fiel es mir ein:
Mein Bibliotheksgeräuschabsorber, mein wunderbarer-mp3-Player, lag noch immer zu Hause, war nicht in meiner Nähe, konnte mir nicht helfen, den nervigen Bibliothekslärm zu unterbinden. Stöckelschuhgeklacker, Tastaturklappern, Menschgeplapper, … – all das wartete auf mich, um mich zu stören, zu behindern.
O nein!, dachte ich.

Ich brauche eine Pause!, entschied ich, setzte mich an einen freien Rechner und schrieb die soeben erlebten Augenblicke nieder.

Ein kurzes Resümee

Wenn man sich das TV-Duell Merkel/Schröder ansah und nun die darauffolgenden Diskussionen und statistischen Auswertungen betrachtet, kann man nicht nur zuweilen den Eindruck bekommen, ein ganz anderes TV-Duell gesehen zu haben, sondern auch, daß mit kunterbunter Zahlenjonglage versucht wird, eine – mir befremdlich anmutende – Meinung als feststehend zu etablieren, so daß andere, nicht feststehende Ansichten, zu dem gleichen Schluß gelangen mögen.

Denn wieso erklärt man jemanden, der in meinen Augen deutlich schlechter gegen seinen/ihren Kontrahenten abschloß, für den eigentlichen Siegeer des TV-Duells, bloß weil er, besser: sie, mit der Voraussetzung startete, nicht Medienkanzler, sondern nahezu medienuntauglich zu sein?
Wieso ist also jemand besser, bloß weil sich abschließend herausstellt, daß er [sie] eigentlich [wenn überhaupt] nur gleichauf ist, aber von vorneherein für schlechter gehalten wurde?
„Wer schlechter anfängt, kann nur gewinnen.“ Oder wie?

Und noch etwas:
Wieso soll jemand, der Familien- und Umweltministerin war, bevor sein Kontrahent überhaupt in die Regierung kam, ungeübt im Umgang mit Medien sein?

Zum Glück habe ich meine eigene Meinung.

Merkel in Magdeburg – Pseudo-Live-Blogging

Live-Blogging auf Papier. Mein Notizbuch und ich befinden sich auf dem Magdeburger Domplatz, wo in wenigen Minuten Frau Dr. Angela Merkel ihren Wahlkampfauftritt zelebrieren wird. Ihr Tourbus steht nicht hinter der Bühne, sondern neben ihr, seitlich von ihr, so daß mit blauen [„Wechsel wählen“] oder orangefarbenen [„Angie“] Schildern bewaffnete CDU-Groupies ihr Geleit von der Ruhe- zur Redeposition geben können.

Die ersten beiden Redner ergreifen das Wort. Der erste, ein mir Unbekannter, schreit in das Mikrophon, glaubt vielleicht, dadurch besser anzukommen. Sein Schnauzbart wirkt nicht minder unattraktiv als sein ständiges „Meine Damen und Herren“, bis zu zwei Mal pro Satz. Ich kann es nicht mehr hören. Gleich raste ich aus…

Der zweite Redner benutzt Fußballsprache. Von Trainerwechsel ist die Rede. Die Metaphern gehen in ihrer Penetranz ineinander über und sollen wohl nur eines verdeutlichen: Bernd Heynemann, Magdeburgs CDU-Spitzenkandidat und bereits im Bundestag tätig, war einst Schiedsrichter. Und genauso wird er auch vorgestellt, nicht als Amtsperson, sondern als „unser Schiedsrichter“. Nun ja.

Was will eigentlich Christoph Bergner, Hallenser CDU-Kandidat, hier? Er wird doch sowieso nicht reden [dürfen]. Mein Hallenser Freund M würde mir an dieser Stelle mal wieder mitteilen, daß sein Vater einst mit Christoph Bergner zusammen im Trabi fuhr.

Bevor es hier losgeht, ein kleiner Rückblick:
Auf dem Weg zum Domplatz wurde ich von einem Polizisten angehalten, der meinen Rucksack auf gefährliche Waffen oder ähnliches durchsuchen wollte. Vielleicht war ich ihm in meiner schwarzen Kleidung mit der Bombenlegerfrisur besonders verdächtig vorgekommen. Vielleicht sah er mir aber auch an, daß ich aus der Stadt stammte, in der Helmut Kohl einst mit Eiern beworfen worden war.
Er erledigte seine Arbeit gründlich, supergründlich, gründlicher als ich es jemals – selbst bei Flughafenkontrollen – erlebte. Und schnell wurde er in dem Krimskrams der vielen einzelnen Taschen fündig: eine Batterie, ein hochgefährliches Wurfobjekt.
„Können Sie haben.“, meinte ich freimütig. Schließlich war die Batterie leer. Doch er stopfte sie nach eingehender Betrachtung wieder in den Rucksack.
In der Vordertasche fand er ein anderes potentielles Mordwerkzeug: ein Felgenband.
Für alle, die nicht wissen, was das ist: Ein Felgenband legt man auf die Innenseite einer Fahrradfelge, damit der Schlauch nicht auf dem blanken Metall aufliegt und sich dort aufreibt. Es hat demnach den Durchmesser eines Fahrradreifens, eine Breite von vielleicht anderthalb Zentimetern und besteht aus Gummi. Die ultimative Mord- und Anschlagswaffe also.
„Was ist das?“, fragte der grüne Mann, und ich erklärte es ihm.
„Brauchen Sie das noch?“, fragte er.
„Ja, auf jeden Fall.“, meinte ich, um mein schönes Felgenband besorgt.
Er fragte bei seinem Kollegen um Rat. Der zuckte mit den Schultern und ließ mich und mein gefährliches Band gewähren.
Mein gewissenhafter Untersucher gab nach, ließ uns weiterziehen, eilte dann aber hinterher, begleitete mich. Scheinbar wollte er mich zu seinen Kollegen bringen, die am Domplatz Stellung bezogen hatten.
Dort angekommen wechselte er einige Wort mit ihnen. Sie interessierten sich allerdings weder für ihn noch für uns.
„Dürfen wir jetzt gehen?“, fragte ich.
„Jaja.“, meinte er mürrisch.

Eine Frage stelle ich mir in Anbetracht der mir unbekannten Politiker:
Wo ist eigentlich Ministerpräsident Böhmer?

Die Schilder „Wechsel Wählen“ und „Angie“ nerven. Die Trillerpfeifen sind ebenso allgegenwärtig wie die schrecklich sektenhaften CDU-Jünger.

Als „Frau Dr. Angela Merkel“, wie sie mehrmals angekündigt wird, aus ihrem Tourbus kommt, vernehme ich erstaunlich wenig Applaus. Warum auch? Sie wird zwar als zukünftige Bundeskanzlerin vorgestellt und von den Sekten-Wahnies frenetisch begrüßt, doch hat sie noch nichts wirklich Erwähnenswertes geleistet, das die Massen zum Toben bringen könnte.

Nach den beiden, bereits erwähnten, Vorrednern ist sie endlich an der Reihe. Sie stottert, verspricht sich, datiert die Wahl auf den 17. September, meint aber „in 17 Tagen“, erntet Hohn und Spott.
Ihre Rede beginnt erstaunlich langweilig, was mir Gelegenheit gibt, die Vorband der Wahlkampfveranstaltung zu erwähnen.

Die Partymusikkopiermusikgruppe „Undercover“ hatte vergebens versucht, mittels üblicher Partysongs die Stimmung hochzupuschen. Doch Wolfgang Petry und die [alte] Neue Deutsche Welle waren genauso wenig dafür geeignet wie die unschöne Choreographie der Coverband.
Ich glaube, selbst Roland Kaiser von der SPD war besser als diese Hampelmannformation.

Den Wunsch, hier politische Erkenntnisse zu erhalten, muß ich wohl begraben. Denn an dieser Stelle ist Politik Party und Polemik. Nicht gerade das Wahre, das ich ersuchte.

Frau Merkel stottert viel zu viel. Bei fünf Versprechern habe ich aufgehört zu zählen. Es ist erschreckend, was für eine schlechte Rednerin sie ist – nicht zuletzt im Vergleich mit Herrn Fischer und Herrn Schröder.
Ich kann nicht umhin, die bisher vermittelten Inhalte als „Stammtischrede“ zu klassifizieren.

Warum redet eigentlich „unser“ Bernd Heynemann nicht?

Frau Merkel meint, Eichel muß weg und argumentiert konzeptlos à la „Nieder mit dem König. Es lebe der König.“ Hauptsache, er ist erstmal weg.

Im Publikum befinden sich, ebenso wie bei Herrn Schröder die omnipräsenten Hartz-IV-„Montags“-Demonstranten. Zum Glück behindern ihre untransparenten Transparente mir diesmal nicht die Sicht. Dafür sorgen allerdings die bereits erwähnten „Angie“-/“Wechsel wählen“-Schilder. Immerhin können auch dynamische CDU-Jünger nicht stundenlang beide Arme heben.

Wow. Ich überlege gerade, ob ich nicht besser SPD statt der Grünen wählen sollte – und das während Frau Merkels Wahlkampfrede. Das spricht nicht unbedingt für sie.

Frau Merkel: „Wir haben in Deutschland keine Bodenschätze. Der Schatz unseres Landes sind die Menschen.“
Andere Länder haben wohl demnach keine Menschen? Oder sind das dann alles Untermenschen?

Die Rede fällt in die Kategorie „Stupidity Hoch Zehn“: Dort, wo die CDU ein Bundesland regiert, verbessern sich sofort die PISA-Ergebnisse.

„Angie“ wird zunehmend sicherer. Sie scherzt und zieht Publikumssympathien auf ihre Seite. Vielleicht hat sie allmählich ihren Redefluß gefunden.

Ihre Rhetorik ist dennoch mies. Schlechter Satzbau, noch schlechtere Wörter. Wer benutzt schon mehrmals „die allermeisten“?

Ihr Appell für die Gentechnologie in Deutschland erntet Applaus. Ich schüttle angewidert mit dem Kopf. Sie redet von „weißer Gentechnik“, als gäbe es eine simple Einteilung in „gute“ und „böse“ Gentechnik, in weiße Magie, die Heilzwecken dient, und schwarze Magie, die Dämonenbeschwörungen vorbehalten ist.
[Außerdem erwähnt sie Sachsen-Anhalt als [ehemaligen] Chemiestandort und meint, daß dadurch die Grundlagen für die Genforschung geschaffen seien. Ist Gentechnik nicht eher Biologie als Chemie?]

Während der Rede ertappe ich mich, wie ich in alten Notizbucheinträgen schmökere. Disziplin!

Die geplante Erhöhung des Steuerfreibetrages [auf 8000 Euro für Erwachsene und Kinder] bedeutet für eine vierköpfige Familie, daß sie, wenn sie weniger als 32000 jährlich verdient, keine Steuern zu zahlen braucht, behauptet Frau Dr. Merkel.
Keine Steuern? Das ist ja wohl ein Witz. Sofort fällt mir nicht nur die Tabaksteuer und dergleichen, sondern auch die geplante Mehrwertsteuererhöhung ein.

Angela Merkel lächelt und wirkt zum ersten Mal sympathisch. Ich bin beeindruckt.

Die vielen Kosten, die vom Bruttolohn abgehen, sollen mittels der Erhöhung der Mehrwertsteuer gesenkt werden. Das erntet Pfiffe und Buhrufe aus dem Publikum, die Frau Merkel spöttisch abtut.
Ab Januar 2001 soll das, im Falle eines Wahlsieges, verwirklicht werden. Vermutlich ist eine Mehrwertsteuererhöhung in den nächsten Jahren sowieso nicht aufzuhalten. Bin gespannt, was nach einem CDU-Wahlsieg tatsächlich geschehen wird.

Schon wieder derselbe Spruch über Kanzler Schröder und die SPD: „Versprochen – gebrochen“. Langsam nervt’s.

Von der Bühne schwappt so etwas wie Aufbruchsstimmung, der Wechselgedanke, herüber. Respekt an Frau Merkel.

Vor mir, innerhalb des riesigen abgezäunten Areals tigert eine Fotografin umher und ordnet fingierte Fotos von jugendlichen Schildhochhaltern an.

Langsam wird es zu dunkel zum Schreiben. Auch der Stift hat allmählich keine Lust mehr und wird – um mal in der vorhin erwähnten Fußballsprache zu bleiben – ausgewechselt.

Thema Sicherheit: Frau Merkel fordert Videoüberwachung an öffentlichen Plätzen. Protestrufe belächelt sie: „Jaja, ich weiß, wer da jetzt protestiert.“
Als wären alle Videoüberwachungsgegner potentielle Missetäter, die nur durch die Überwachung von ihren Untaten abgehalten werden würden.
Auch erwähnt sie den Erfolg der Terroristenfahndungen von London als Pro-Argument, vernachlässigt aber, daß sämtliche Kameras für Terrorprävention ungeeignet gewesen waren.

Dann erzählt sie die wahrlich schlechte Geschichte von Herrn Ströbele von den Grünen, dessen Fahrrad vor dem Reichstag gestohlen worden war und der sich in seinem Wunsch, den Dieb zu finden, an die Reichstagsvorplatzkameraüberwacher wandte. Erfolglos übrigens. Der Geschichte fehlte jeder Witz, jede Pointe.
Und ich frage mich, ob fortan jeder alberne Fahrraddieb Berechtigung geben soll, die Winkel unserer Städte und Dörfer genauestens zu überwachen.

Dann lamentiert Frau Merkel über diejenigen, die „in ihren Moscheen oder sonstwo Haßpredigen gegen den deutschen Staat“ von sich geben. Ihr Tonfall in Kombination mit dem Gesagten wirkt äußerst aggressiv. Von christlicher Nächstenliebe ist kaum etwas zu spüren. Eher von kaschiertem Fremdenhaß. Eine unvorsichtige Wanderung nahe des Abgrunds.
[Ist Brandenburg, Frau Merkels Heimatland, nicht eine Hochburg der Rechten?]

Anschließend redet Frau Merkel über „die anderen“, verfällt erneut einem bissigen und fast schon bösartigen Tonfall, arbeitet mit schamlosen Unterstellungen und albernen Behauptungen wie der, daß Politiker gefälligst nicht zu lachen haben – erst recht nicht auf derart überdimensional großen Plakaten wie die von den Linken.

Merkel redet weiter. ‚Oh mein Gott.‘, denke ich mir, ‚ Soviel Stumpfsinn habe ich schon nicht mehr gehört.‘

„Neuwahlen gibt’s, weil keiner auf Schröder hört.“
Was für eine alberne Vereinfachung.

Ich stelle nebenbei fest, daß der Magdeburger Dom auch in Dunkelheit wunderschön aussieht.

Schon wieder spielt Frau Merkel auf die CDU als Partei der Einheit an. Es nervt.

„Oppositionsarbeit“ – was für ein Wort.

„Ich gebe keine Versprechen, die ich nicht halten kann.“
Nun ja, wahrhaft viele Inhalte hat sie meiner Erinnerung nach auch nicht rübergebracht.

Von irgendwo klatschen Menschen immer wieder. Doch die Leute um mich herum halten still, bewegen sich nicht. Vielleicht stammt das Klatschgeräusch ja von Band.

„Deswegen bitte ich Sie, Ihre Stimme der Christlich Demokratischen Union zu geben“
„Niemals!“, schreit eine einzelne Stimme aus dem Hintergrund.

Frau Merkel spricht davon, daß es Zeit wird, daß die einzelnen Bundesländer „die rote Laterne abgeben“ und führt Sachsen-Anhalt als Erfolgsbeispiel an. Allerdings: Irgendein Bundesland muß die rote Laterne doch haben. Das geht gar nicht anders.

Neben mir steht ein alter Mann mit weißem Haar, hat die ganze Zeit über den Kopf gesenkt, klatscht nicht. Er spricht mich an:
„Sie hätten wohl ne Stirnlampe haben müssen.“
Als ein Platz im Licht frei wird, weist er ihn mir zu. Ich bedanke mich lächelnd.

Frau Dr. Angela Merkel beendet ihre Rede ohne großen Höhepunkt, ohne Feierlichkeit. Die Menschen wenden sich ab und gehen. Doch Bernd Heynemann spricht noch ein paar Worte. Das hätte ich nicht mehr erwartet.

Leider erzählt er nur Müll. Er berichtet davon, daß die Prinzen zu Schröders Wahlkampfveranstaltung in Dresden ihren Top-Titel „Chronisch Pleite“ nicht singen durften.
Top-Titel? Ich kenne ihn nicht.

Mit Musiktiteln geht es weiter und mündet in den Gedanken, daß die Scorpions aus Hannover einst einen Song schrieben, der auch für den 18. September herhalten könnte: „Winds Of Change“, das Wendelied mit dem Pfeif-Intro.
Albern hoch Zehn.

Oh mein Gott. Das Lied der Deutschen.
Und nochmal: Oh mein Gott. Während wir fliehen, spielt Undercover noch einen Klassiker: „Angie“ von den Rolling Stones.
Das hätte nun wirklich nicht sein müssen.

Natürlich muß ich mich mit der Frage auseinandersetzen, ob Schröder und Fischer, bloß weil sie wesentlich bessere, überzeugendere Redner sind, auch bessere Politik machen. Auch sollte ich mich fragen, inwieweit die von Frau Dr. Angela Merkel angesprochenen Reformen das Land vorantreiben können und ob Rot und Grün zu ähnlichem imstande sein werden.

Doch bedeutsamer für mich ist es festzustellen, daß es genug CDU-Inhalte gibt, mit denen ich mich nicht identifizieren kann, so daß meine bereits getroffene Wahlentscheidung durch diesen Auftritt eher bestärkt als erschüttert wurde.

Selbst der Ohrwurm „Angie“, der mich noch Stunden später belästigte, vermochte das nicht zu ändern.

Über das politische Desinteresse

Generelles politisches und historisches Desinteresse war schon immer einer meiner Wesenszüge, die zu verleugnen mir stets unglaublich schwer fiel, insbesondere weil ich nicht umhin konnte, jederzeit freimütig zuzugeben, daß ich von Nichts eine Ahnung hatte – und habe.

Schon im zarten Alter von zehn Jahren drängte mich mein besorgter Vater dazu, damit zu beginnen, Zeitungen zu lesen, nicht alles, nur hin und wieder ein Artikel, eine Seite, damit ich ein Gespür für den Stil, die Art und Weise bekäme. Er selbst war übrigens derjenige in unserer Familie, der am lautesten über die oft hohlen Inhalte des lokalen Tagesblattes schimpfte.

Bis heute lese ich keine Zeitung. Das hat weniger mit Zeitmangel als mit Unlust zu tun. Obgleich ich immer wieder von meinem Vater angestachelt worden war, interessierte ich mich maximal für den samstäglichen Käptn-Blaubär-Comic [der tatsächlich oft sehr amüsant war].

Ich probierte es mit der Bild [war ja klar, daß das nichts wird], mit den lokalen Blättern von Halle und Magdeburg [Mitteldeutsche Zeitung und Volksstimme], mit der Welt [Das Abo war ein Geschenk des Springer-Verlages an meine damalige Mitbewohnerin.], mit der FAZ [Mein Mitbewohner hatte sie abonniert.] und der Zeit [Ein Gemeinschaftsabonnement zweier Mitbewohner.]. Doch ich las nicht, interessierte mich doch zu wenig.

Begann ich irgendwo, stellte ich schnell fest, daß mir die Hintergründe fehlte. Bis heute vermag ich nicht genau zu erklären, was genau in Israel eigentlich los ist.
Doch ich habe nicht den Willen, den Ehrgeiz, dieses fehlende Wissen zu beseitigen, ist mein Interesse nicht derart stark ausgeprägt, daß ich mich durch seitenweise Geschichte und politische Verknüpfungen und durch unzählige unbekannte Namen und Orte kämpfen kann oder möchte.

Es muß erst ein ungewollter Irakkrieg kommen, der mit seiner Medienpräsenz zum Nachdenken und Hinterfragen einlädt, um mich davon zu überzeugen, daß es besser sei, sich zu informieren. Und tatsächlich informierte ich mich bei Ereignissen wie diesen, lobte das Internet für seine Medienbestände, für die Zusammenfassungen und Zusammenhangsdarstellungen, lobte mich für meine Beständigkeit, was das Verfolgen neuerer Berichte anging.
Doch schnell ebbte auch dieses Interesse ab, und ich verfiel meiner alten Ignoranz von Politik und Geschehen.

Glücklicherweise ist es mit dieser aber nicht allzu weit her, gewöhnte ich mir doch längst an, täglich eine geraume Weile online Neuigkeiten aller Welt zu betrachten, meine Blicke über Schlagzeilen und ergreifende Bilder schweifen zu lassen und bei geweckter Neugierde auch die entsprechenden Artikel zu lesen.

Und so kann ich heute von mir behaupten, nicht fern der Gegenwart zu leben, zu begreifen, was „draußen“ vor sich geht, zumindest in Ansätzen. Denn noch immer spüre ich, daß ich mich mit einem „gefährlichen Halbwissen“ umgebe, daß die wahren Hintergründe verborgen bleiben, obgleich es den Anschein hat, als wüßte ich bescheid.

Ich weiß, daß mein fehlendes Wissen und mein fehlendes Interesse an Politik und Geschichte Gründe sind, weswegen ich – trotz einigermaßen akzeptablen Schreibstiles – niemals ein guter Journalist werden würde. Deswegen erachte ich als befremdlich, mich dabei zu beobachten, wie mich ich innerhalb weniger Wochen schon zum dritten Mal zu einer Wahlkampfveranstaltung begeben werde, um polemischer Rhetorik und vereinzelten Inhalten zu lauschen.

Auch hier fehlen mir oft die Hintergründe, doch reichen die skurrilen Umstände der Wahl und die allgemeine mediale Aufregung aus, um mich wieder neugierig zu machen, einzufangen und für einen Moment in dem Glauben zu wiegen, Politik wäre etwas, das ich verstehen könnte, ja vielleicht sogar verstehen will.

Und so erhebe ich mich nun und begebe mich auf den Magdeburger Domplatz, um der Kanzlerkandidatin der CDU zu lauschen und ihr die Möglichkeit zu geben, meine bereits gefestigten Ansichten zumindest ansatzweise zu erweichen und vielleicht ein wenig mehr Licht in mein politsch-historisches Unverständnis zu bringen.

Wahlkampfunstimmigkeiten in Magdeburg

Da ich rauszufinden versuchte, zu welcher Uhrzeit und an welchem Ort die CDU-Vorsitzende Merkel heute Abend in Magdeburg zu sehen und zu hören sein wird, gelangte ich schnell zu der Magdeburger CDU-Seite www.cdu-magdeburg.de, die mir tatsächlich Auskunft gab.
Unter „Aktuelle Termine“ fand ich als aktuellsten, terminlich naheliegensten Eintrag:
02.09.05 Bowling-Abend der Frauen-Union.
Schön.

Die deutschlandweit gültige CDU-Seite schickte mich weiter zu www.angela-merkel.de, wo ich unter „Termine“ tatsächlich fündig wurde:
01.09.2005 Wahlkampfauftritt 20:00 Uhr, Domplatz, Magdeburg.

Mit blieb keine Zeit, mich zu wundern, warum Außenminister Fischer und Bundeskanzler Schröder sich mit dem kleineren, aber zentraler gelegenen Alten Markt begnügt hatten, während Frau Merkel und Konsorten mit dem weitläufigeren Domplatz vorlieb nehmen, war ich doch schon auf dem Weg zur nächsten informativen Seite:
www.heynemann.de, der Internetauftritt des Magdeburger CD-Kandidaten Bernd Heynemann.

Und auch dort wurde ich fündig. Die Terminübersicht klärte mich auf:
01.09.2005, 19:00 Uhr Großveranstaltung mit Angela Merkel Domplatz Magdeburg.

Moment. 19 Uhr? Nicht 20 Uhr, wie die Heimseitenbastler von Frau Merkel geschrieben hatten? Welche Uhrzeit stimmte nun? Eine derartige Uneinigkeit war ich aber von Grün und Rot nicht gewohnt.

Ich wunderte mich, überlege, wann ich dort am besten eintrudeln sollte und stellte die Hypothese auf, daß Bernd Heynemann als Vorredner schon gegen 19 Uhr seine Ansprache kundgibt, während Frau Merkel erst 20 Uhr das Wort erhalten wird.

Das erklärt zwar die unterschiedlichen Uhrzeiten, wirft aber ein schlechtes Licht auf die Einigkeit innerhalb der CDU und die Frage auf, ob Frau Merkel womöglich gar kein Interesse für den Magdeburger CDU-Volksvertreter Bernd Heynemann aufbringt, so daß dessen Wahlkampfauftritt auf ihrer eigenen Internetseite unerwähnt bleiben darf.
Das dürfte den armen Herrn Heynemann bestürzen, so er es je erfährt.

Falls irgendwem bei der Lektüre obiger Zeilen der Name „Bernd Heynemann“ bekannt vorgekommen ist, so liegt das daran, daß es sich tatsächlich um den einstmals sehr geschätzten und fähigen Schiedrichter handelt, der nun in Ruhestand bzw in die Politik [Ich weigere mich, hier die Behauptung aufzustellen, das wäre das gleiche.] ging.
Tatsächlich stellt Bernd Heynemann wohl einen der wenigen Bürger Magdeburgs dar, der sich internationaler Bekannt- und Beliebtheit erfreut.

Das jedoch ist noch lange kein Grund, ihn oder seine Partei zu wählen, aber Anlaß genug, sich zu überlegen, ob man zu dem Wahlkampfauftritt des ehemaligen Schiedsrichters Trillerpfeifen und rote Karten mitbringen sollte…

Straßenbahnerlebnisse 11: Balldiebstahl und Zettelei

In der Straßenbahn haben sich mehrere Kinder versammelt. Ihr Alter zu schätzen, fällt mir schwer, doch offensichtlich kommen sie gerade von der Schule und befinden sich auf dem Heimweg.

Ein Junge liest ein Zettelchen vor, das sie sich während des Unterrichts schrieben.
„Griechenland ist blöd. Aber Mandy ist noch viel blöder.“
Ungefähr 80 Prozent des weiteren Inhalts besteht aus dem Satz „Mandy ist doof.“

Währenddessen klaut ein anderer Junge einem dunkelhaarigen Mädchen einen Ball.
„Gib den Ball wieder her.“, schreit sie, zugleich erzürnt und belustigt, „Sonst bring ich dich um.“
Der Junge reagiert nicht, und läßt sich selbst, als sie sich von ihrem Platz erhebt, zu ihm eilt und versucht, den Ball seinen Händen zu entwinden, nicht beeindrucken.
„Gib den Ball wieder her.“, wiederholt das Mädchen, „Sonst verliebt sich Maria wieder in dich.“
„Mir doch egal.“, meint der Balldieb achselzuckend.

‚Was für eine Drohung!‘, denke ich belustigt.

Die Rettung der hölzernen Dame

Ich wohne im Dachgeschoß, verfüge daher über eine Schräge in meinem Zimmer, die ein nicht minder schräges Fenster einschließt. Inmitten der momentan recht hochsommerlichen Temperaturen lasse ich es mir natürlich nicht nehmen, nicht nur das schräge Fenster so weit wie möglich zu öffnen, sondern auch Tür und Zweitfenster dem maximalen Aufsperrwinkel auszusetzen. Daß ein erfrischender Durchzug daraus resultiert, ist erwartbar und gewissen Grenzen auch beabsichtigt.

Leider [oder: Glücklicherweise] verfügt das erwähnte schräge Fenster über ein enorm breites Fensterbrett, das dazu einlädt, nicht nur die beiden Miniaturtopfpflanzen, die meine geringe Pflegebereitschaft überlebten, darauf zu postieren, sondern auch bedeutsame Nachschlagewerke [Duden, Fremdwörterlexikon, Herkunftswörterbuch, Synonymwörterbuch], allerlei Krimskrams und eine Künstlerpuppe.

Letztere bekam ich einst von meiner Mami [Erstaunlicherweise sage und schreibe ich noch immer am liebsten „Mami“, weil ich alles andere – „Mutti“, „Mutter“, „femininer Elternteil“, … – für zu unpersönlich halte.] geschenkt. Es handelt sich um das standardmäßig bekannte Exemplar aus Holz mit beweglichen Gliedern, die man zu den abenteuerlichsten Posen verrenken kann, um somit ein gutes Modell für eventuelle Abmalversuche zu schaffen.

Meine Puppe stellt mit ihren schätzungsweise 40 Zentimetern Größe kein kleines Exemplar dar und ist zudem auch noch weiblich. Tatsächlich stand auf der Packung, daß sie weiblichen Geschlechts sei [Die männlichen waren wohl ausverkauft, meinte meine Mami.], was sich anhand vorhandener Oberkörperauswölbungen leicht verifizieren läßt.

Ich habe die Puppe noch nicht oft benutzt, verforme nur zuweilen ihre Glieder und erfreue mich des neuen Anblicks. Sie steht auf dem Fensterbrett, direkt vor meinem Schreibtisch und bildet einen schönen Blickfang für mich, der sich stets gern von seiner Arbeit ablenken läßt.

Die Sonne scheint eifrig in mein Zimmer hinein, blendet mich so sehr, daß ich gezwungen bin, ihre Aktivität etwas zu dämpfen, ihre Strahlen mittels eines Vorhangimitats abzumildern. Einen echten Vorhang besitzt das schräge Fenster nicht. Daher muß die Flagge einer Metal-Band dafür herhalten.

Provisorisch befestige ich das obere Ende am Fenster und erfreue mich des Windes, der den Flaggenstoff sanft in Wallung bringt. Doch kaum blicke ich weg, fährt eine Bö durch mein Zimmer, rüttelt wild an der Flagge, die sich jedoch nicht aus ihrer Befestigung löst.
Aber ihre heftigen Bewegungen reißen meine Künstlerpuppe mit sich. Vor wenigen Tagen hatte ich ihre Hände wie während eines großen Schreckens zum Mund geführt, als würde sie immerfort „Oh!“ ausrufen.

Und nun höre ich deutlich, wie Fahne die Künstlerpuppe von ihrem Platz zerrt, sehe vor meinem geistigen Auge die hölzerne Dame „Oh!“ rufen, wende meinen Kopf und erhasche mit meinen Blicken gerade noch ihren Sockel, der hinter dem Fensterbrett verschwindet, dem aus dem Fenster stürzenden Puppenkörper hinterhereilt.

Ein lautes Klackern folgt. Dann herrscht Stille.

Langsam erhebe ich mich, sehe hinaus – und lächle.
Die hölzerne Puppe hat den Sturz überlebt. Kein Wunder, ist sie doch nicht – wie befürchtet – fünf Stockwerke in die Tiefe gefallen, sondern liegt dank rettender Dachschräge kopfüber, aber unversehrt in der Dachrinne anderthalb Meter unter mir.

Tapfer klettere ich auf meinen Schreibtisch, befreie das Fensterbrett von störendem Krimskrams, luge ein weiteres Mal nach außen. Anderthalb Meter sind mehr, als ich mit Armlänge überrücken kann. Und eigentlich will ich es auch gar nicht, mißfällt mir doch der Gedanke, aus dem Dachgeschoß auf den Innenhof zu stürzen.

Ich sehe mich um. Irgendetwas muß es doch geben, das mir behilflich sein kann, irgendein Gegenstand, mit dessen Unterstützung ich die Puppe aus ihrer mißlichen Lage zu befreien vermag. Denn ich habe nicht vor, sie, die ich durchaus mochte und schließlich einst ein Geschenk war, dort, allen Unwettern ausgesetzt, vermodern zu lassen.

Ich benötige etwas Langes, Flexibles – ein Seil. Doch ich habe kein Seil. Wo ist MacGyver, wenn man ihn braucht?
Ich finde nichts. Nichts – außer einem Ledergürtel, dessen Schnallenende bereits eine annehmbare Schlaufe bildet.

Das muß es ein!
Ich schnappe mir den Gürtel, klettere erneut auf den Schreibtisch, strecke meine Arme aus dem Fenster, manövriere die Ledergürtelschlaufe in die Nähe der Puppe. Langsam, vorsichtig, unnötige Bewegungen vermeidend. Das hölzerne Wesen kann jeden Augenblick aus der rettenden Dachrinne stürzen.

Ich habe eine Schlaufe. Doch wohin damit? Noch immer reckt die Puppe beide Arme nach oben. Das „Oh!“ sieht zwar sturzbedingt bereits etwas verzerrt aus, doch gibt meiner Schlaufe die Möglichkeit, sich um einen Arm zu legen.

Ein Geduldsspiel, doch in solchen Dingen bin ich gut. Die Schlaufe findet ihr Ziel, legt sich so, wie ich es mir wünsche. Langsam beginne ich zu ziehen. Die Puppe rührt sich nicht. Irgendwo ist sie verkeilt.
Keine Panik. Ruhig bleiben. Nicht zerren. Sonst dreht sich der Arm nach oben, die Schlaufe rutscht ab und die vielleicht letzte Rettungsmöglichkeit verfliegt.

Ich rüttle ein wenig, sanft, am Gürtel. Die Künstlerpuppe löst sich, gleitet langsam, aber stetig nach oben. Nur nicht zu früh freuen. Nicht nervös werden.
Die Puppe kommt näher. Fast kann ich sie greifen. Gleich. Nur noch wenige Zentimeter trennen meine linke Hand von ihrem hölzernen Leib. Ich ziehe weiter, lache innerlich auf und packe zu.

Ich hab sie!
Vorsichtig klettere ich vom Schreibtisch. Es sähe mir ähnlich, jetzt, nach geglückter Rettungsaktion selbst zu stürzen.
Doch nichts geschieht.

Erleichtert stelle ich die Holzpuppe auf den Boden, lege die Gürtelschlaufe ab, setze mich und lehne mich stolz zurück.
Wer braucht schon MacGyver?

Morgendlicher Ohrwurm 32: Running

Nachdem der gestrige Abend später geworden war als geplant, erwachte ich – die Bauarbeiterbohrmaschinen als Wecker nutzend – gegen zehn und quälte mich aus den Federn. In meinem Kopf hummelte ein Lied herum, wollte nicht weichen, verwunderte mich, berührten doch die Worte eine Thematik, die ich erst heute Nacht erwähnt hatte:

„I’m running
Running for cover
I’m running
Far, far away / for my life.
Running faster and faster and faster.
And falling. Far away.
Falling down one more day.“

[aus: Evereve – „One More Life“]

Nächtliches

Ich habe mich noch nicht entschieden, inwieweit es als Produkt meiner Spontaneität erachtet werden kann, daß ich mich gegen 0.15 Uhr doch noch einmal außer Haus begab, um in Richtung der bereits erwähnten Bar zu radeln und dem dortigen Amüsement zu frönen. Doch begreift man in meinem Fall Spontaneität als das Ergebnis schier endlosen Herauszögerns einer eindeutigen Entscheidung in Kombination mit der Bekanntgabe und dem Ausführen des Entscheids im letztmöglichen Augenblick, so dürfte man nicht falsch liegen, auch meine kurze Reise durch einen erstaunlich dunklen Park als spontan zu bezeichnen.

Ich traf ein und fand – wie erwartet – unzählige Menschen vor, die sich die letzten Stunden der Existenz einer Magdeburger Pingpong-Bar nicht entgehen lassen wollten.
„Du hast die Versteigerung verpaßt.“, begrüßte mich meine Mitbewohnerin ein wenig vorwurfsvoll, nicht im Geringsten von meiner Anwesenheit überrascht. Das wiederum überraschte mich, war ich doch selbst, als ich mit beiden Füßen innerhalb der Bar stand, nicht wirklich davon überzeugt, mich auf den Weg gemacht zu haben.

Der Vorwurf war zum Teil berechtigt: Die Versteigerung schien der Höhepunkt des Abends gewesen sein, und wenn man bedenkt, womit ich in den Augenblicken beschäftigt war, als sie vonstatten ging, kann man nur vorwurfsvoll-enttäuscht mit dem Kopf schütteln.
‚Immerhin habe ich endlich die Slowakei-Fotos auf eine CD gebrannt.‘, versuche ich mich mir selbst gegenüber zu rechtfertigen – doch ich glaube mir nicht.

Aber die Bar war voll, die Tischtennisplatte zum Bersten von Spielwütigen umstellt. Ich besorgte mir Premium Cola und Kelle und reihte mich ein. Das Spiel war träge, doch amüsant. Ich erkannte Gesichter, wechselte wenige Worte mit denen, die sie hören wollten. Trotz Massenandrangs kam ich schnell bis kurz vor das Finale, erwarb zwei Runden später sogar einen Siegpunkt.

Ich war stolz auf mich, ein wenig, hatte ich mir – und den interessierten [und daher inexistenten] anderen – doch gezeigt, daß ich in der Lage war, mich bis zum siegreichen Finale durchzusetzen. Und zugleich war ich enttäuscht, hieß doch dieser Gewinn, daß es hier nichts mehr zu holen gab, daß mein Ehrgeiz gar nicht mehr angestachelt werden brauchte.

Einmal ertappte ich mich lächelnd, lächelte weiter, erfreut. Ich pausierte, beschaute die Spielenden, redete mit meiner Mitbewohnerin, mit anderen. Nichts Bedeutsames, nur Smalltalk, Worte, wie sie ein jeder wechseln würde, der in nüchternem Zustand gezwungen ist, Kommunikation zu betreiben.

Ich leerte meine Cola und wagte eine weitere Runde, gelangte ins Finale, erwarb einen weiteren Punkt. Meine Freude hielt sich in Grenzen.
‚Es wird Zeit zu gehen.‘, sagte ich mir, erlebte nur wenige Sekunden der folgenden Runde, flog raus und gab meine Kelle ab.

Der Heimweg durch die Dunkelheit schaffte Klarheit:

Ich hatte inmitten von Punktwütigen problemlos zwei Punkte geholt – ein Beweis meiner noch immer schlummernden Tischtennisfähigkeiten. Doch die Anzahl der Worte, die meinen Mund verlassen hatten, war minimal. Und keines davon ging in Richtung der Wesen, die anzusprechen sinnvoll gewesen wäre.

Wie alt war ich eigentlich, daß ich mir noch immer über derlei Teenagerkaspereien Gedanken machen mußte?
Es ging mir nicht um Geltungsbedürfnis, nicht darum, der Masse zu gefallen, nicht darum aufzufallen [Und es waren genug Barbesucher dabei, denen das Auffallen durchaus vorrangig am Herzen lag.]. Es ging einzig und allein um den Wunsch nach Gesellschaft, nach dem Lächeln fremder Lippen, nach Worten, die mehr als die Oberfläche berührten.

Vielleicht war es albern, in einer Bar danach zu suchen, mit scheuen Blicken in Frage kommende Wesen zu taxieren und jedes mögliche Wort unter der eigenen Zunge versteckt zu halten. Doch wo, wenn nicht hier?

Der Heimweg war zu kurz.

Für einen Augenblick durchzuckte mich der Gedanke, daß ich keinen Schlaf wünschte, ihn für überflüssig hielt, unnütz [wenn man von den Körperregnerationprozessen absah], zeitverschwendend. Ich wollte die Nacht nutzen, fühlte mich frei in der Kühle, die meine nackten Arme berührte, in den Gedanken, die durch meinen Kopf sprudelten, aufgelöst im Moment.

‚Albern.‘, verlachte ich mich und meinte den Wunsch, durch Schlafinexistenz nutzvolle Zeit zu gewinnen. Schließlich hatte ich die letzten Tage nahezu tätigkeitsbefreit vertrödelt, ohne auch nur einen Schimmer von Interesse für die verstreichende Zeit zu haben.

Doch ich wünschte, daß die Nacht noch eine Weile verbliebe, daß ich noch stundenlang durch das Dunkel wandern, mir selbst hinterhersinnen könnte, daß ich mich löste von dem Ich, das träge und antriebslos von Tag zu Tag kroch, ohne Plan und Ziel vor Augen zu haben, ohne sich selbst ändern zu können, ja zu wollen.

Ich wünschte, ich hätte einen Begleiter an meiner Seite, mit dem ich meine Gedanken teilen könnte, jemanden, der mit mir den Duft der Bäume im Park genoß, sich an der Stille auf den Straßen erfreute, die Glitzeraugen streunender Katzen bewunderte.
Ich wünschte mir, nicht allein zu sein, nicht in diesen wunderschönen Momenten.

Und ich wünschte, fliehen, einen Schlußstrich ziehen zu können, wieder einmal einfach alle Sachen zu packen und woandershin zu eilen. Ich wünschte, mein Studium wäre beendet, und ich bekäme Gelegenheit, irgendwo neu zu beginnen.
Dann könnte ich der Einsamkeit einen Namen geben, könnte mir einreden, es läge daran, weil ich noch so neu hier sei, noch niemanden kennen würde, könnte mich belügen und mir verschweigen, daß sich auch hier die gleichen Geschichten wiederholen werden.

Ich belüge mich, rede mir ein, ich hätte dieses und jenes Bedeutsame zu tun und verbringe die Tage damit, darauf zu warten, daß ich endlich beginne, anstatt mich mit Dingen zu beschäftigen, die ich tun möchte, die ich mir ersehne.
Ich belüge mich und glaube, daß in ein paar Monaten, wenn sich die Situation geändert, wenn in gewissen Umständen Klarheit eingekehrt ist, alles besser, alles verständlicher, vielleicht einfacher sein wird, daß ich mich dann all dem Ersehnten, Versäumten, hingeben kann.

Doch so ist es nicht, und ich weiß es, verharre im Heute, um der Zukunft nicht begegnen zu müssen. Vielleicht habe ich Angst vor ihr, Angst vor neuen Wegen, neuen Entscheidungen, Angst vor Verlusten, vielleicht vor dem Verlust eines Teiles meiner selbst.
Doch vielleicht verlor ich längst, verlor ich mich längst in meiner eigenen Trägheit.

‚Sprich sie an.‘, flüsterte ich mir zu, als ein sympathisches Mädchen [Gibt es eigentlich einen erwachseneren Ausdruck als „Mädchen“, der nicht „Frau“ lautet?] sich hinter mich in die Tischtennisschlange einreihte.
‚Sprich sie an.‘, doch ich schwieg, bewunderte sie heimlich, genieße ihre Nähe.
Später bemerkte ich, daß ich noch nicht einmal so weit gekommen war, mich zu fragen, welche Worte wohl die geeignetsten wären.

Daß die Trägheit mich festhält, gefangenhält, begriff ich längst. Doch ich selbst bin es, bin die Trägheit, bin der einzige, der mich befreien, der sich entfesseln kann.
‚Ein Neuanfang.‘, denke ich und lächle, ‚Ein Neuanfang. Irgendwo.‘
Flucht als Perspektive – auch kein neuer Gedanke.

‚Wer bin ich, daß ich alles Alte aufwärme und noch immer keinen Antwort fand?‘, wundere ich mich und schüttle mit dem Kopf.
Der Wind spielt in meinem Haar, und ich genieße den Rausch der Geschwindigkeit.

‚Wie war doch gleich die Frage, die es zu beantworten gilt?‘, überlege ich. Ich weiß es nicht, glaube aber, nicht keine, sondern unzählige Antworten gefunden zu haben. Sie alle zeigen, deuten auf mich, behaupten, daß ich es wäre, mein Wille, der mich aus dem Dreck zu zerren, mir eine Richtung zu weisen habe.

Träge gebe ich mir recht und nicke wortlos in die Dunkelheit.