Das 4. Türchen

Heute war ein schöner Tag.

Gemächlich lief ich durch den Winter, genoss den Schnee, der in einzelnen, wunderschönen Flocken auf die Erde fiel, genoss die klare kalte Luft, die durch meine Lungen fegte und in Form zauberhafter Wölken wieder meinem Mund entfloh.

Ich mochte den Winter, und mir war es das Liebste, den Schneeflocken bei ihrem anmutigen Tanz zuzuschauen, ihr Schwingen und Schweben, ihr Wirbeln und Wehen, zu bewundern.

Und wenn ich besonders aufmerksam war, konnte ich sie sogar kichern hören.

Heute war ein schöner Tag, denn plötzlich drang ein winziges Kichern an mein Ohr, eines, das größer wurde und wuchs, das zum Lachen ward, ein winziges und doch prachtvolles Lachen, das weiter wuchs und gedieh und plötzlich voller Inbrunst und Freude jubilierte.

„Wuhuu!“, rief eine Schneeflocke und wischte und wuselte zwischen ihren Freunden und Geschwistern hindurch, von Glück und Begeisterung getrieben.

„Wuhuu!“, rief sie erneut. „Heute ist ein schöner Tag!“

„Das stimmt.“, sagte ich, und ein warmes Lächeln lag auf meinem Gesicht.

„Heute werde ich alles küssen!“, rief die Schneeflocke lachend und schwebte auf mich zu. Schmatz!, schon hatte sie meine Nase geküsst. Schmatz!, ein weiterer Kuss landete auf meiner Wange. Schmatz!, ein dritter Kuss – diesmal direkt auf meinen Mund.

Ich war überrascht, doch die Schneeflocke war bereits wieder unterwegs, wirbelte weiter.

„Heute werde ich alles küssen!“, rief sie wieder. „Die ganze Welt.“

Sie schwieg kurz, sah nach unten.

„Die ganze Welt!“, wiederholte sie und ließ sich fallen.

Langsam schwebte sie hinab, dem Erdboden entgegen. Ich konnte ihre Vorfreude förmlich spüren.

„Komm her, Welt!“, rief sie begeistert. „Lass dich küssen.“

Und dann landete sie auf dem Boden, landete auf auf der Erde, landete und küsste die Welt.

Die gesamte Welt auf einmal.

Das 3. Türchen

Eines Tages begegnete ich einer Socke. Sie war orange und gelb gekringelt, und obwohl ich schon viele Socken in meinem Leben gesehen hatte, war dies vielleicht die wunderschönste, der ich jemals begegnet war.

Allein trostlos hing sie über einem Treppengeländer. Von einer zweiten Kringelsocke gab es keine Spur.

„Hallo.“, grüßte ich die Socke. „Wo ist denn dein Zwilling?“

„Ich bin Einzelkind.“, sagte die Socke freundlich.

„Einzelkind? Aber ihr kommt doch immer in Paaren!“, entgegnete ich und begab mich auf die Suche nach der zweiten Socke.

„Ich bin allein!“, rief die Socke mir zu, während ich hinter Mülltonnen und in Büschen herumstöberte, hoffend, ihre Schwester ausfindig machen zu können. Ich lief ein paar Schritte in jede Richtung, blickte in einen Briefkasten und in einen Gullydeckel, kniff die Augen zusammen und suchte die gesamte Straße ab. Doch ich fand nichts.

„Ich bin allein.“, rief die Socke erneut, doch ich war bereits dabei, unter jedes einzelne parkende Auto zu schauen, ob der Wind die Schwestersocke nicht vielleicht hierhin geweht hatte. Doch ich fand nichts.

Erschöpft und niedergeschlagen kehrte ich zur Socke zurück. „Ich habe deine Schwester nicht finden können“, sagte ich traurig. „Es gibt hier weit und breit keine weitere Socke.“

„Ich bin keine Socke!“, rief die Kringelsocke.

„Hä?“, antwortete ich verwirrt.

„Ich bin ein Rüsselwärmer!“, erklärte die Kringelsocke, die keine Kringelsocke war. „Und Rüsselwärmer haben keine Geschwister.“

„Rüsselwärmer?“, wiederholte ich. „Was soll denn ein Rüsselwärmer sein?“

„Ach, hier bist du!“, sagte da eine tiefe Stimme direkt hinter mir. „Ich habe dich bereits überall gesucht!“

Ich drehte mich um, und vor mir stand ein prachtvoller Elefant. Er zwinkerte mir zu, hob den Rüssel und befreite seinen Rüsselwärmer vom Geländer.

„Schönen Abend noch.“, trötete er und stapfte davon.

Verwirrt blieb ich zurück, sah ihm nach, wie er um die nächste Straßenecke verschwand.

Es begann zu schneien.

„Er wird den Rüsselwärmer brauchen können“, dachte ich und ging nach Hause.

Das 2. Türchen

Es schneite.

Den ganzen Tag waren die Schneeflocken wild durch den Himmel geflogen, hatten sich ausgetobt und nun, da es sich dem Abend zuneigte, kehrte allmählich etwas Ruhe ein. Langsam schwebte eine Flocke herab, setzte sich auf meinen Handschuh und seufzte.

Schneeflockenseufzer sind nicht nur sehr sehr leise, sondern auch das dritttraurigste Geräusch auf Erden.

Tränen schossen in meine Augen und mit belegter Stimme fragte ich: „Was ist denn los?“

„Och nichts.“, wisperte die Schneeflocke und seufzte erneut.

Dieses Mal stach mir das Seufzen tief ins Herz. Alle Farbe schien aus der Welt geflohen zu sein.

„Sag schon.“, bat ich sie, hoffend, sie würde nicht noch ein drittes Mal seufzen.

Doch die Schneeflocke begann zu reden, reihte leise flüsternd Wort an Wort, und wenn ich mich anstrengte, konnte ich jedes einzelne verstehen.

„Ach.“, sagte sie. „Ich bin den ganzen Tag durch die Luft geschwebt. Habe versucht, das Unvermeidliche zu vermeiden. Doch nun, wenige Zentimeter von meiner Bestimmung entfernt, kann ich es nicht mehr hinauszögern: Ich werde auf dieser Wiese landen.“

„Aber die Wiese ist doch wundervoll!“, entgegnete ich, ließ meine behandschuhte Hand kreisen, zeigte ihr die Pracht der von frischem Schnee bedeckten Wiese.

„Überhall liegen Schneeflocken. Und morgen kommen die Kinder und werden mit euch spielen!“

„Das ist es ja.“, sagte die Schneeflocke und seufzte ein drittes Mal.

Mir versagte die Stimme vor Traurigkeit.

„Die Kinder werden kommen, werden mit uns spielen, werden aus uns einen Schneemann bauen.“

Sie hielt inne, sah mich an.

„Ich will kein Schneemann werden!“, rief sie.

„Aber wieso denn nicht?“, entgegnete ich sanft.

„Weil ich weiblich bin!“

Ich nickte. Da hatte sie recht: Weibliche Schneeflocken sollten nicht zu Schneemännern werden.

Ohne lange nachzudenken, kniete mich hin und begann, mit meiner freien Hand den unberührten Schnee zu einem Haufen zusammenzuschieben und zu formen. Es dauerte eine Weile, doch schließlich war ich fertig und blickte voller Stolz auf mein Werk.

„Was soll denn das sein?“, fragte die Schneeflocke kritisch.

„Ein Motorrad!“, antwortete ich zufrieden.

„Ein Schneemotorrad?“, fragte die Schneeflocke.

„Ja.“

„Ein echtes Schneemotorrad?“

„Ja!“

„Perfekt!“, rief die Schneeflocke, sprang von meinem Handschuh und schwebte zielgerichtet auf den Lenker des Schneemotorrads.

„Perfekt!“, sagte sie erneut, und ich stapfte davon.

Das 1. Türchen

Manche von euch erinnern sich vielleicht an die Geschichten, die ich in der Rubrik „Begegnungen“ schrieb und die schließlich sogar in einem Ebook Platz fanden. Für den diesjährigen Fredventskalender werde ich euch anstelle von 24 Comics, Cartoons oder Zeichnungen Tag für Tag eine neue, kleine, winterlich-weihnachtliche Geschichte präsentieren. Jede dieser 24 Geschichten wird eine Begegnung, jede wird ein wenig niedlich, ein wenig albern, aber auf jeden Fall bastianisch sein.

Doch genug des Vorworts. Ich wünsche euch fiel Fergnügen und Hohoho!

Eines Tages begegnete ich einer Schneeflocke.

Es schneite, und einer Schneeflocke zu begegnen, bedurfte keiner besonderen Anstrengungen. Der gesamte Himmel war voll von ihnen.

Doch diese eine Schneeflocke war anders. Sie schwebte nicht wie all die anderen Flocken langsam und bedächtig dem unvermeidlichen Erdboden entgegen, sondern sie schien eine Richtung, ein Ziel, zu haben, schien genau zu wissen, was sie tat. Ich entdeckte sie zwischen hunderten weiteren Schneeflocken, und kaum hatte mein Blick sie erfasst, bemerkte ich mehr: Sie glitzerte, glitzerte mehr als ihre Schwestern und Brüder, und ihr Glitzern ließ ihren zarten, zerbrechlichen Schneeflockenkörper größer, weicher, ja: intensiver, erscheinen. Es war, als drängte ein riesiges Kichern aus ihr heraus in die Welt.

Ich mochte die Schneeflocke sofort.

„Hallo.“, sagte ich zu ihr, als sie sich noch weit über meinem Kopf befand.

Sie drehte sich nach unten, und ihr Glitzern wuchs, als sie mich erblickte.

„Hallo.“, sagte sie.

„Du bist einzigartig.“, sagte ich, denn etwas Besseres, Richtigeres, fiel mir nicht ein.

„Jede Schneeflocke ist einzigartig.“, antwortete sie, und ich konnte das Kichern zwischen ihren Wörtern förmlich spüren.

„Aber du bist einzigartiger.“, entgegnete ich, mich jeder Logik widersetzend. „Vielleicht sogar am einzigartigsten!“

Die einzigartigste Schneeflocke zögerte kurz.

„Nein.“, sagte sie dann. „Ich bin einzigUNartig!“

Frech küsste sie mich auf den Mund und ließ sich vom nächsten Windstoß davontragen.