Grün, ja grün, …

Als ich eines späten Abends durch die Dunkelheit mit dem Fahrrad nach Hause fuhr, sah ich einen Streifenwagen von der Sorte, die im Volksmund auch als „Sixpack“ bezeichnet werden, am Straßenrand stehen. Die Polizisten waren ausgestiegen und beschäftigten sich mit einem Radfahrer, den sie augescheinlich angehalten hatten, weil dieser ohne ordnungsgemäße Beleuchtung durch die Gegend zu fahren gewagt hatte.

Ich selbst radelte auch lichtlos und trug zudem noch, in Ermangelung von Taschen oder eines Gepäckträgers, zwei gebrannte CDs in der Hand, deren Inhalte nicht auf „rechtem“ Wege zu mir gelangt waren. Die Aussicht auf ein Strafgeld wegen meines verkehrsunsicheren Gefährts und auf einen Besuch diverser Raubkopiefahnder in meiner Wohnung veranlaßten mich, vorsichtshalber die Straßenseite zu wechseln.

Schon wollte ich mir gratulieren, die Polizisten, welche sowieso durch ihr bisheriges Opfer abgelenkt gewesen waren, clever umfahren zu haben, als ich mich plötzlich inmitten einer Meute aus dreißig grünbetuchten Gesetzesvertretern befand.

Diese hatten mein Ausweichmanöver beobachtet und forderten mich mit bedrohlichen Gesten auf abzusteigen. Ich fuhr nicht nur ohne Licht und war vor einer möglichen Kontrolle geflohen, sondern befand mich nun auch noch auf der falschen Straßenseite. Die CDs hatten sie noch gar nicht bemerkt.

Von allen Seiten vernahm ich nun kritische Kommentare. Was dieses Fluchtmanöver sollte, wollte jemand wissen, wohin ich radelte, warum ich ohne Licht fuhr. Eingeschüchtert behauptete ich, mein Dynamo sei vor wenigen Hundert Metern abgefallen. Tastächlich war meine Beleuchtung voll funktionstüchtig – wenn man vom fehlenden Dynamo absah.
„Warum haben Sie den Dynamo dann nicht dabei?“
„Ich fand ihn nicht – ohne Licht.“

Kritisch beäugten vier oder fünf Uniformierte mein Rad, prüften gewissenhaft jede Kleinigkeit, leuchteten mit Taschenlampen jedes Detail ab, sahen die Lampen, sahen den fehlenden Dynamo, übersahen die defekte Vorderbremse.
Was machten überhaupt 30 Polizisten mitten in der Nacht an diesem Ort? Sicherlich hatten sie Wichtigeres zu tun, als Radfahrer zu belästigen. Und tatsächlich, sie waren abgelenkt, nicht ganz bei der Sache.

Denn noch während sie miteinander diskutierten, bemerkte ich, daß ich nicht mehr beachtet wurde und begann, mich langsam, allmählich, das Fahrrad schiebend, von ihnen weg zu bewegen. Sie hielten mich nicht auf, redeten weiter.

Ich lief, das Fahrrad am Lenker haltend, einhundert, zweihundert Meter. Ständig wollte ich zurücksehen, ob die Polizisten mir hinterherschauten, ob sie gar hinter mir hereilten. Doch ich hielt mich zurück, starrte stur geradeaus, nach vorn – und schob.

Kaum trennte mich eine Kurve von der Polizistenmeute, sprang ich aufs Rad.
„Fickt euch.“, murmelte ich und fuhr eilig davon.

Glücksspiel beim Einwohnermeldeamt

Nachdem ich bei der vorangestellten Informationseinholung äußerst zuvorkommend und freundlich mit nützlichen Auskünften versehen worden war, freute ich mich nahezu auf meinen Besuch beim Einwohnermeldeamt. Doch vor den Pforten des ehemaligen Einwohnermeldeamtes stehend geriet ich in leichte Verwirrung:

Wo war das Amt? Hier befand sich nur ein „Bürgerbüro“, was auch immer sich hinter diesem alles- und nichtssagenden Namen verbergen mochte. Ich lugte hinein und entdeckte eine Tafel mit der Aufschrift „Bitte fragen Sie zuerst an der Information.“

Das zu tun, war ich gewillt. Ich stieg die wenigen Stufen hinauf, um der jungen und einigermaßen attraktiven Informationsdame mein Anliegen vorzutragen. Scheinbar war ich richtig, scheinbar hieß das Einwohnermeldeamt jetzt ganz zwanglos Bürgerbüro – denn die junge Dame reagierte prompt, riß eine Nummer von einer Rolle ab und reichte sie mir: 38.

Ich begab mich in den Warteraum und fand einen freien Platz. Auf der Anzeigetafel leuchtete eine rote 18.

Obwohl ich bei Ämtern prinzipiell grenzenlosem Optimismus fröne und vor Betreten des meist übervollen Wartesaals die stets unpassende Ansicht vertrete, nur wenige Augenblicke mit Warten verbringen zu müssen, fühlte ich weder Enttäuschung noch Überraschung, als ich feststellte, daß ich noch 20 vor mir Aufgerufene abwarten mußte.
Ich hatte ja mein Buch.
Und den Kassenautomaten.

Die früher „menschliche“ Kasse war gegen einen Automaten ausgetauscht worden. Wenn man also aufgerufen wurde und sich zu einem Schalter begab, um irgendetwas zu beantragen, bekam man dort eine Plastikkarte mit integriertem Chip gereicht. Dann hatte man sich zurück in den Warteraum zum Kassenautomaten zu begeben, um dort die Karte einzuführen und den auf dem Display erscheinenden Betrag zu bezahlen. Als Dank dafür bekam man Wechselgeld in Münzen und zwei Quittungen – eine für den Eigenbedarf und eine, die man der Sachbeabeiterin am Schalter reichen sollte, die dann den gestellten Antrag komplettierte und versandfertig machte.

Gerade stellte ich mir die Frage, was wohl passieren würde, wenn der Automat seinen Dienst verweigerte, als eine korpulente Frau mit erstaunlich fröhlichem Lächeln auf dem Gesicht an den Metallkasten herantrat und die Karte einführte. Jedoch spuckte der Automat diese sofort wieder aus. Verdutzt, aber ohne ihr Lächeln zu verlieren, stellte die Frau ihre Handtasche auf einen leeren Stuhl und kramte darin nach ihrer Brille. Mit stärkerer Sehkraft bewaffnet wagte sie einen zweiten Versuch und schob die Karte wieder in den dafür vorgesehenen Schlitz. Einen Augenblick später war die Karte schon wieder draußen.

Noch immer lächelnd begab sie sich zur Information, befragte die schon erwähnte Informationsdame:
„Was muß ich tun, wenn der Automat die Karte nicht will?“
„Rubbeln.“, war die Antwort.

Die Informationsdame nahm ihre Karte, rieb sie eine Weile am rechten Hosenbein ihrer Jeans, trat an den Automaten, schob sie hinein – und wunderte sich, daß sie wieder hinausglitt. Ein zweiter Versuch lieferte das gleiche Ergebnis. Doch wenn die Informationsdame „Rubbeln“ sagt, meint sie es scheinbar ernst: Eine geraume Weile rieb sie die Karte an den Ärmeln ihres Wollpullover. Jetzt aber.

Karte rein. Karte raus. Karte rein. Karte wieder raus. Mist.
Eine zweite Kartenbesitzerin trat herbei, wünschte ebenfalls zu zahlen. Die Informationsdame hatte einen Geistesblitz: Sollte doch die andere ihr Glück versuchen. Sie versuchte. Karte rein. Karte raus.
Ratlos holte die Informationsdame Hilfe, ließ die beiden Kartenbesitzerinnen planlos zurück. Die neu Hinzugetretene probierte es erneut, hatte die vergeblichen Vorversuche nicht mitbekommen. Karte rein. Karte raus. Sinnlos.

Ein Mann trat herbei. Scheinbar hatte er die technisch hochwertigen Worte der Informationsdame vernommen, denn er rieb seine Karte emsig am Hosenbein. Auch er versuchte sein Glück, steckte die Karte in den Automatenschlitz – und sah sie wieder herauskommen. Doch er gab nicht auf. Fast schon wahnhaft rieb er nun seine Karte auf seinem Bauch herum, besser: an seinem gelben Poloshirt. Das mußte doch gehen!
Ein erneuter Versuch. Wer wagt, verliert. Alles Rubbeln nützte nichts, die Karte kam zurück. Der Mann resignierte.

Hilfe eilte herbei. In Form einer Dame mittleren Alters, mit einem Schlüssel bestückt. Diese öffnete den Automaten, friemelte ein wenig in den Innereien herum, zerrte eine Tastatur heraus, startete ihn neu. Ihr Bemühen wirkte ziellos, planlos.
Sie schloß den Kassenautomaten, griff sich die nächstbeste Karte, schob sie ein. Sie kam zurück. Wer hätte das gedacht.

Mittlerweile hatte sich um den Automaten eine Menschentraube zahlungswilliger Kartenbesitzer gebildet. Doch der Automat verweigerte sich ihnen. Eine zweite Hilfe eilte hinzu, doch redete nur, ohne etwas zu bewirken. Der Automat weigerte sich weiterhin. Der Mann mit dem gelben T-Shirt probierte es erneut. Er schien ein sturer Kopf zu sein. Doch selbst das half nicht: Als er seine Karte hineinschob, wurde sie umgehend wieder ausgeworfen.

Und wieder bekam die Menschenmasse Zulauf. Eine etwa 35jährige Frau mit blondiertem Haar stellte schüchtern die Frage, ob denn auch sie es versuchen könnte. Bereitwillig wurde sie durchgelassen. Warum nicht? Die anderen hatten ja nichts zu verlieren.
Die blonde Frau wagte ihr Glück. Der Kassenautomat mutierte zum Glücksspielautomat. Karte rein. Bingo!

Tatsächlich behielt der Automat die Karte. Die blonde Frau freute sich wie über einen Hauptgewinn, als sie ihren Geldbetrag einzahlte. Im Gegenzug rasselte der der Blechkasten wie bei einem Jackpot: das Wechselgeld.

Froh und sichtlich erleichtert verließ der Blondine den Wartebereich, ließ die anderen zurück, die nun ebenfalls danach drängten, ihr Glück nochmal auf die Probe stellen zu dürfen. Und siehe da: Plötzlich nahm der vorher so starrköpfige Automat alle Karten an und kassierte, kassierte, kassierte.

Keinen störte es mehr, 26 Euro für einen Reisepaß ausgeben zu müssen, nein, es war ein Segen, die eigenen Geldscheine im Automaten verschwinden zu sehen. Halleluja, der Automat funktionierte! Nimm unser Geld, auf daß du noch ewig funktionieren mögest!

Nur eine Frage verblieb unbeantwortet: Was würde geschehen, wenn der Automat einmal irreparabel funktionsuntüchtig wäre, wenn kein Glücksspiel, kein Zufall alle Ärgernisse ungeschehen machte, wenn die wartenden Bürger keine Gelegenheit bekämen, ihr sündiges Geld loszuwerden…?

Trommelwirbel

Ich neige dazu, bei offenem Fenster schlafen zu wollen. Das ist soweit nichts Ungewöhnliches, schlafen doch vermutlich Millionen Deutsche bevorzugt auf diese Art und Weise. Allerdings führen nicht sämtliche Schlafzimmerfenster dieser Millionen Frischluftschlafender auf einen Innenhof. Meines schon. Das meines Bruders auch. Zumindest früher.

Bevor er umzog, lebte er in Halle in einem bereits ziemlich heruntergekommenen Viertel. Das von ihm bewohnte Miethaus wirkte noch recht beschaulich, doch die Umgebung war eher traurig anzusehen. Das zeigte sich auch an den dort ansässigen Bewohnern, die zumeist den sozial schwächeren, den „bildungsfernen“ Schichten anzugehören schienen.

Das Schlafzimmer, das mein Bruder mit seiner Freundin teilte, besaß nur ein Fenster. Doch Innenhöfe haben die unangenehme Angewohnheit, Schall mehrfach zu reflektieren, so daß ein einzelnes Wort bis in oberste Stockwerke, in entfernteste Wohnungen zu dringen vermag – auch durch ein einzelnes Fenster. Erst recht der Lärm spielender Kinder, die Gespräche alkoholisierter Trinkgenossenschaften, die Zankereien pubertierender Jugendlicher, das unaufhörliche Schreien unbeachteter Babys und die inhaltsleeren Plaudereien dialogisierender Muttis.

Wenn mein Bruder von der Nachtschicht heimkam, wollte er schlafen. Mehr nicht. Doch konnte er damit rechnen, daß Angehörige erwähnter Gruppierungen sich auf dem Innenhof versammelt hatten, um – sämtliche freundlich mahnenden Schilder ignorierend – ihre Anwesenheit mit entsprechender Lautstärke kundzutun. Schallwellen wurden gegen Hauswände geschmettert, reflektiert, wieder reflektiert und drangen schließlich durch das geöffnete Fenster in das Schlafzimmer meines Bruders. An Schlaf war nicht zu denken.

Die von mir derzeit bewohnte Gegend ist keineswegs Brennpunkt sozial Schwacher, sondern eher gehobenen Standards. Und doch zeigt das Fenster, unter dem sich mein Bett befindet, zum Hof hinaus, und zuweilen kommt es vor, daß ich mich ärgere, wenn die Bauarbeiter schon in aller Frühe damit beginnen, Aluminiumträger zu zersägen oder wenn Freundinnen verschiedener Hauseingänge beim Entsorgen des Hausmülls endlose Gespräche führen, die lautstark und klar zu mir hinaufdringen.

Heute Morgen erwachte ich von einem mir unbekannten Gräusch, das sich unregelmäßig wiederholte. Es klang wie ein Trommeln, allerdings ohne Rhythmus, ohne Metrum, mal schneller, mal langsamer. Schläfrig lauschte ich dem ungewohnten Klang und stellte fest, daß es vermutlich nicht von Menschenhand produziert wurde, waren die Trommelwirbel doch zu unregelmäßig und teilweise auch zu schnell. Auch konnte ich mir nicht vorstellen, daß irgendwer mutwillig sich in den Innenhof setzte, um irrsinnige Trommelkunststücke zu vollführen.

Ich schloß die Augen und wollte die Lösungs des Rätsels auf einen späteren Zeitpunkt verschieben, doch das Trommeln war zu laut, zu aufdringlich. Ich konnte nicht schlafen. Ruhelos lag ich im Bett und haderte mit dem Gedanken, das Fenster zu schließen. Doch dieser Vorgang beinhaltete eine Bewegung, die mich womöglich endgültig aus meinem Schlummer gerissen hätte.

Ich rührte mich nicht, ließ die Gedanken treiben und lauschte nebenbei dem verrückten Trommler. Was konnte das sein?
Ein Blick nach draußen zeigte mir Grau. Dicke Wolken bevölkerten Himmel und gaben einen Teil der Lösung des Mysteriums preis.

Seufzend erhob ich mich, ging ins Bad. Zurück in meinem Zimmer entsann ich mich der Trommelei. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, sah aus dem Fesnter und lugte nach unten. Kein irrer Trommler weit und breit.

Doch an der gegenüberliegenden Hauswand endete eine Regenrinne – wohlgemerkt im fünften Stock. Ein steter Strom gesammelten Regenwassers plätscherte fröhlich aus dem Ende heraus und fiel dann mehrere Meter in die Tiefe. Mein Blick folgte dem Sturz des Miniaturwasserfalls und entdeckte am Boden ein Schimmern.
Ich kniff die Augen zusammen.

In einer Ecke des Hofes hatten die Bauarbeiter, die zu zweit seit mindestens drei Jahren das Haus sanierten, Schotter und anderen Baumüll gelagert. Dieser bereits unschöne Anblick wurde ergänzt durch eine nicht geringe Anzahl wild aufeinandergeworfener Aluminiumstücke, die wohl überflüssig und unnütz waren.

Doch dem Regen nützten diese Blechteile durchaus etwas, konnte er sie doch als Trommelinstrument mißbrauchen. Stürzte nun aus dem Regenrinnenende im fünften Stockwerk ein einzelner Tropfen mit hoher Geschwindigkeit auf die Aluminiumstücke, die sich als Träger akustischer Schwingungen sehr gut eigneten, entstand ein dumpfer, blecherner Trommelklang. Jedoch handelte es sich nicht um einen einzelnen Tropfen, sondern um einen ganzen Bach, der dem Regenrinnenende entsprang.

Munter plätscherte die Tropfensammlung auf die Metallteile ein, trommelte wild und verrückt ein Lied zu Ehren des Regens, zu Ehren des trüben Wetters, ein Lied, das durch den gesamten Innenhof schallte, durch geöffnete Fenster in Wohnungen eindrang und heimtückisch friedfertige Mieter um ihrem wohlverdienten Schlaf brachte.

‚Na, warte!‘, murmelte ich, riß beide Fenster weit auf und schaltete die Musikanlage an. Böse Gitarrenklänge, virtuose Trommelwirbel und düsteres Gekreisch gellten aus meinen Boxen, beschallten den Innenhof.

‚Wenn ich nicht schlafen kann, soll es keiner!‘, dachte ich und erhöhte die Lautstärke.
Der Regen war nicht mehr zu hören. Ich hatte gesiegt.

Studentenparty

Der Song „Losing My Religion“ von REM kann eindeutig nicht zu den schlechtesten gerechnet werden und bringt, selbst wenn er mit unangenehmen, penetranten Bässen unterlegt wird, noch eine erstaunlich hohe Tanzbarkeit mit sich, vermutlich nicht zuletzt dem starken Wiedererkennungs- und Mitsingpotential geschuldet.
Noch schöner ist es allerdings, die „Losing My Religion“-Version der Black Metal Band Graveworm zu kennen, während der eigenen Tanzbewegungen im Ohr zu wissen, heimlich in sich hineinzugrinsen und den Liedtext nicht nur mitzusingen, sondern – dem Graveworm-Beispiel folgend – mitzukreischen, mitzuschreien, mitzugrunzen…

P.S: Gäbe es so etwas wie „Antibewegung“ oder „Negativbewegung“, wäre sie zu „Call On Me“ von Eric Prydz, diesem Unlied, optimal angewendet.