Nachdem ich bei der vorangestellten Informationseinholung äußerst zuvorkommend und freundlich mit nützlichen Auskünften versehen worden war, freute ich mich nahezu auf meinen Besuch beim Einwohnermeldeamt. Doch vor den Pforten des ehemaligen Einwohnermeldeamtes stehend geriet ich in leichte Verwirrung:
Wo war das Amt? Hier befand sich nur ein „Bürgerbüro“, was auch immer sich hinter diesem alles- und nichtssagenden Namen verbergen mochte. Ich lugte hinein und entdeckte eine Tafel mit der Aufschrift „Bitte fragen Sie zuerst an der Information.“
Das zu tun, war ich gewillt. Ich stieg die wenigen Stufen hinauf, um der jungen und einigermaßen attraktiven Informationsdame mein Anliegen vorzutragen. Scheinbar war ich richtig, scheinbar hieß das Einwohnermeldeamt jetzt ganz zwanglos Bürgerbüro – denn die junge Dame reagierte prompt, riß eine Nummer von einer Rolle ab und reichte sie mir: 38.
Ich begab mich in den Warteraum und fand einen freien Platz. Auf der Anzeigetafel leuchtete eine rote 18.
Obwohl ich bei Ämtern prinzipiell grenzenlosem Optimismus fröne und vor Betreten des meist übervollen Wartesaals die stets unpassende Ansicht vertrete, nur wenige Augenblicke mit Warten verbringen zu müssen, fühlte ich weder Enttäuschung noch Überraschung, als ich feststellte, daß ich noch 20 vor mir Aufgerufene abwarten mußte.
Ich hatte ja mein Buch.
Und den Kassenautomaten.
Die früher „menschliche“ Kasse war gegen einen Automaten ausgetauscht worden. Wenn man also aufgerufen wurde und sich zu einem Schalter begab, um irgendetwas zu beantragen, bekam man dort eine Plastikkarte mit integriertem Chip gereicht. Dann hatte man sich zurück in den Warteraum zum Kassenautomaten zu begeben, um dort die Karte einzuführen und den auf dem Display erscheinenden Betrag zu bezahlen. Als Dank dafür bekam man Wechselgeld in Münzen und zwei Quittungen – eine für den Eigenbedarf und eine, die man der Sachbeabeiterin am Schalter reichen sollte, die dann den gestellten Antrag komplettierte und versandfertig machte.
Gerade stellte ich mir die Frage, was wohl passieren würde, wenn der Automat seinen Dienst verweigerte, als eine korpulente Frau mit erstaunlich fröhlichem Lächeln auf dem Gesicht an den Metallkasten herantrat und die Karte einführte. Jedoch spuckte der Automat diese sofort wieder aus. Verdutzt, aber ohne ihr Lächeln zu verlieren, stellte die Frau ihre Handtasche auf einen leeren Stuhl und kramte darin nach ihrer Brille. Mit stärkerer Sehkraft bewaffnet wagte sie einen zweiten Versuch und schob die Karte wieder in den dafür vorgesehenen Schlitz. Einen Augenblick später war die Karte schon wieder draußen.
Noch immer lächelnd begab sie sich zur Information, befragte die schon erwähnte Informationsdame:
„Was muß ich tun, wenn der Automat die Karte nicht will?“
„Rubbeln.“, war die Antwort.
Die Informationsdame nahm ihre Karte, rieb sie eine Weile am rechten Hosenbein ihrer Jeans, trat an den Automaten, schob sie hinein – und wunderte sich, daß sie wieder hinausglitt. Ein zweiter Versuch lieferte das gleiche Ergebnis. Doch wenn die Informationsdame „Rubbeln“ sagt, meint sie es scheinbar ernst: Eine geraume Weile rieb sie die Karte an den Ärmeln ihres Wollpullover. Jetzt aber.
Karte rein. Karte raus. Karte rein. Karte wieder raus. Mist.
Eine zweite Kartenbesitzerin trat herbei, wünschte ebenfalls zu zahlen. Die Informationsdame hatte einen Geistesblitz: Sollte doch die andere ihr Glück versuchen. Sie versuchte. Karte rein. Karte raus.
Ratlos holte die Informationsdame Hilfe, ließ die beiden Kartenbesitzerinnen planlos zurück. Die neu Hinzugetretene probierte es erneut, hatte die vergeblichen Vorversuche nicht mitbekommen. Karte rein. Karte raus. Sinnlos.
Ein Mann trat herbei. Scheinbar hatte er die technisch hochwertigen Worte der Informationsdame vernommen, denn er rieb seine Karte emsig am Hosenbein. Auch er versuchte sein Glück, steckte die Karte in den Automatenschlitz – und sah sie wieder herauskommen. Doch er gab nicht auf. Fast schon wahnhaft rieb er nun seine Karte auf seinem Bauch herum, besser: an seinem gelben Poloshirt. Das mußte doch gehen!
Ein erneuter Versuch. Wer wagt, verliert. Alles Rubbeln nützte nichts, die Karte kam zurück. Der Mann resignierte.
Hilfe eilte herbei. In Form einer Dame mittleren Alters, mit einem Schlüssel bestückt. Diese öffnete den Automaten, friemelte ein wenig in den Innereien herum, zerrte eine Tastatur heraus, startete ihn neu. Ihr Bemühen wirkte ziellos, planlos.
Sie schloß den Kassenautomaten, griff sich die nächstbeste Karte, schob sie ein. Sie kam zurück. Wer hätte das gedacht.
Mittlerweile hatte sich um den Automaten eine Menschentraube zahlungswilliger Kartenbesitzer gebildet. Doch der Automat verweigerte sich ihnen. Eine zweite Hilfe eilte hinzu, doch redete nur, ohne etwas zu bewirken. Der Automat weigerte sich weiterhin. Der Mann mit dem gelben T-Shirt probierte es erneut. Er schien ein sturer Kopf zu sein. Doch selbst das half nicht: Als er seine Karte hineinschob, wurde sie umgehend wieder ausgeworfen.
Und wieder bekam die Menschenmasse Zulauf. Eine etwa 35jährige Frau mit blondiertem Haar stellte schüchtern die Frage, ob denn auch sie es versuchen könnte. Bereitwillig wurde sie durchgelassen. Warum nicht? Die anderen hatten ja nichts zu verlieren.
Die blonde Frau wagte ihr Glück. Der Kassenautomat mutierte zum Glücksspielautomat. Karte rein. Bingo!
Tatsächlich behielt der Automat die Karte. Die blonde Frau freute sich wie über einen Hauptgewinn, als sie ihren Geldbetrag einzahlte. Im Gegenzug rasselte der der Blechkasten wie bei einem Jackpot: das Wechselgeld.
Froh und sichtlich erleichtert verließ der Blondine den Wartebereich, ließ die anderen zurück, die nun ebenfalls danach drängten, ihr Glück nochmal auf die Probe stellen zu dürfen. Und siehe da: Plötzlich nahm der vorher so starrköpfige Automat alle Karten an und kassierte, kassierte, kassierte.
Keinen störte es mehr, 26 Euro für einen Reisepaß ausgeben zu müssen, nein, es war ein Segen, die eigenen Geldscheine im Automaten verschwinden zu sehen. Halleluja, der Automat funktionierte! Nimm unser Geld, auf daß du noch ewig funktionieren mögest!
Nur eine Frage verblieb unbeantwortet: Was würde geschehen, wenn der Automat einmal irreparabel funktionsuntüchtig wäre, wenn kein Glücksspiel, kein Zufall alle Ärgernisse ungeschehen machte, wenn die wartenden Bürger keine Gelegenheit bekämen, ihr sündiges Geld loszuwerden…?