R-E-S-P-E-C-T

Was genau ist eigentlich ein Buch? Es gibt eine Definition der UNESCO: „Ein Buch ist eine nicht-periodische Veröffentlichung von mindestens 49 Seiten Umfang exklusive des Einbands.“ Es ist sicher nett, was sich die UNESCO so an lauen Sommerabenden zusammendefiniert, aber daß ein Buch generell etwas Bewahrenswertes ist, sagt auch diese Definition nicht. Auch eine Publikation, wo auf der ersten Seite ein Rezept für Serviettenknödel ist, auf der zweiten ein Lob der altchinesischen Frauenfußverstümmelung und auf der dritten eine Anleitung zum Tottrampeln von Zeisigen ist ein Buch, Hauptsache, es folgen noch 46 weitere Seiten. Ein solches Buch kann man m. E. kühlen Gewissens verbrennen. Doch was riefen die Menschen dann? „Wo man Bücher verbrennt, da verbrennt man am Ende auch Menschen!“ würde es tönen, und daß man vor einem Buch wahnsinnigen Respekt haben muß.

Diese, von Max Goldt in seinem Essay „Eine Wolke, auf der man keinen Husten bekommt“ geschriebenen Worte kamen mir heute in Erinnerung, als ich mich in das Zimmer meiner Mitbewohnerin begab und mich in Ermangelung einer Sitzgelegenheit auf ihre Liege und somit beinahe auf ein dickes, fettes Buch plazierte, das dort herumlag. Fast schon panisch schrie sie auf, als mein Allerwertester auch nur in die Nähe des Wälzers kam, so daß mir nichts übrig blieb, als mich erneut zu erheben, das Buch beiseite zu schieben, um mich dann ruhigen Gewissen setzen zu können und die Stimmbänder meiner Mitbewohnerin zu schonen.
Verwundert blickte ich sie an:
„Es ist doch nur ein Buch…“
Demonstrativ wollte ich mich nun auf dem Buch plazieren, doch meine Mitbewoherin ahnte mein Vorhaben und öffnete schon einmal präventiv den Mund. Sie verfügt über eine recht markante und vor allem dezibelintensive Stimme, weswegen ich schnell von meinem albernen Vorhaben abkam.
„Es ist doch nur ein Buch.“, wiederholte ich.
Es handelte sich um Ken Folletts „Die Säulen der Erde“, sicherlich nicht schlechteste Buch aller Zeiten, doch war es auf keinen Fall unersetzbar. Für sie schon.
„Ich behandle Bücher mit Respekt.“
Ich lachte innerlich. Meine Mitbewohnerin wollte mir erzählen, wie ich „Die Säulen der Erde“ zu behandeln habe – dabei war es mein eigenes Buch.
„Aber es ist meins.“, sagte ich, „Und es ist nur ein Buch.“
„Trotzdem. Bücher verdienen Respekt.

‚Warum?‘, wunderte ich mich und entsann mich oben erwähnter Worte von Max Goldt. Bloß weil eine Zeilensammlung mindestens als 49 Seiten [exklusive des Einbands] umfaßt, verdienen Bücher mehr Respekt als beispielsweise Hausschuhe oder Kartoffelsalatplastikverpackungen? Bloß weil es sein könnte, daß der Inhalt aus Bedeutsamem besteht [das ist in den seltensten Fällen gegeben – zumindest wenn man die Anzahl existierender Bücher mit der gehaltvoller vergleicht], darf man ein Buch nicht genauso behandeln wie den Rest seines Besitzes?
Noch einmal warf ich einen Blick auf das Buch. Es war abgenutzt und schäbig. Eine alte Taschenbuchausgabe, die ich auf irgendeinem Flohmarkt erworben hatte. Schon damals hatte sie abgenutzt und schäbig ausgesehen, was nicht zuletzt der Grund gewesen war, das Werk zu kaufen, senkte doch das ramponierte Aussehen den Preis erheblich.
Ich hatte ein abgegriffenes Buch erworben, dessen Inhalt, nicht dessen Unversehrtheit mich interessierte. Kaum war ich zu Hause angekommen, fletzte ich mich auf mein Bett und las. Ich neige nicht dazu, Bücher bei der Lektüre zu schonen. Bücher sind dazu da, gelesen zu werden, nicht um schön auszusehen.
Beispielsweise vermeide ich den Kauf von Hardcovern. Der einzige Vorteil, den ich den Werken in hartem Einband abgewinnen kann, ist nicht dessen potentielle Bücherregalästhetik, sondern die von den Verlagen preispolitisch clever erdachte Tatsache, daß neue Werke zuerst als Hardcover erscheinen, sodaß man als Taschenbuchbevorzieher gezwungen ist zu warten – oder eben doch mehr Geld auszugeben.
Meinen Büchern sieht man an, daß sie gelesen wurden. Sicherlich werde ich sie nicht bewußt als Tellerersatz für mein fettiges, tomatensoßengetränktes Abendessen in Benutzung ziehen, doch werde ich mich auch nicht bemühen, jede Seite nur mit Pinzette anzufassen, um keinerlei Abdrücke unsauberer Fingerspitzen oder gar unschöne Eselsohren zu hinterlassen.
Ich lese, wo ich bin. Im Zug, in der Bahn, im Park, in der Uni, in der Mensa, zu Hause, auf dem Klo. Überall. Dementsprechend müssen die leblosen Opfer meines Wortwahns mich überall hinbegleiten. Natürlich bleibt das nicht ohne Folgen.
Ken Folletts Roman umfaßt mehr als 1150 Seiten. Die Lektüre dieses Werkse braucht also seine Zeit. Und ich muß zugeben, von ihm gefesselt gewesen zu sein. Ich wollte ständig weiterlesen, nahm das Buch stets dorthin, wo ich mich aufzuhalten gedachte, ohne mich darum zu kümmern, ob der Einband Kratzer oder Knicke erhielt oder den Seiten minimaler Schaden zugefügt wurde. Ich weiß nicht, wie oft ich das Buch in meinem unsortierten, mit allerhand Kram bestückten Ruckstack verstaute, es wieder herausholte, fallenließ, aufhob, weiterlas, knickte, mit Lesezeichenzettelchen bestückte, irgendwo vergaß und doch wiederfand.
Es war egal, nur ein Buch. Der Inhalt wußte mich zu begeistern, doch um das Äußere sorgte ich mich nicht.

Und nun schrie meine liebe Mitbewohnerin schon bei der Vorstellung auf, ich könnte mich versehentlich auf diesem Buch, das von mir bisher mit wenig Rücksicht bedacht worden war, plazieren, ich könnte ihm irgendwie Schaden zufügen, den nötigen Respekt verwehren.
Gerade wollte ich mich rechtfertigen, wollte Max Goldt zitieren, wollte von den schrecklichen Dingen berichten, die dieses Werk schon mit mir zu erdulden hatte, als ich mich eines Besseren besann, mich in mein Zimmer verzog und las:
Salman Rushdie. „Der Boden unter ihren Füßen“. Preisreduziertes Mängelexemplar. 860 Seiten. Zwei Eselsohren und ein großer Kratzer auf dem Einband.
Trotzdem genial.

Mensa-Zeit

Ich sitze allein an einem Tisch für acht Personen. Eine junge Frau gesellt sich hinzu. Ich bin in meine Nahrungsaufnahme vertieft, hebe kaum den Kopf. Zu der jungen Frau gehören aber scheinbar noch mehr, lauter Universitätsmitarbeiter. Ich schränkte meinen Platzverbrauch ein. Der Tisch wird voll besetzt. Obwohl ich allein sein wollte, ist mir die plötzliche Anwesenheit der anderen nicht unangenehm.

Mit gegenüber sitzt eine Asiatin, eine Chinesin, wie sich herausstellt. Sie redet Englisch mit ihren Kollegen. Dann schaut sie mich an, betrachtet mein Shirt. In Ermangelung sauberer schwarzer Shirts hatte ich mich für ein olivgrünes entschieden, mit einem Drachen und diversen Schriftzeichen bedruckt. Sie zeigt auf die Schrift, als wüßte sie etwas.

„Was bedeutet das?“, frage ich, neugierig geworden.
Sie hat mich verstanden, will antworten, doch ihr Deutsch reicht nicht aus.
„Ich verstehe auch Englisch.“
Ich komme mir dumm vor, den Satz auf Deutsch gesagt zu haben. Sie scheint es nicht zu stören, gibt in fließendem Englisch eine Erklärung.
Das von ihr aus am weitesten rechts befindliche Zeichen heiße „Sonne“, doch in Verbindung mit den anderen beiden ergäbe es das Wort „Zeit“. Es handle sich wohl um ziemlich alte chinesische Schriftzeichen, ergänzt sie.
Ich bin fasziniert.

„Ist das jetzt fashion?“, fragt sie, meint die vielen Mädels (und Jungs), die sich chinesische Schriftzeichen eintättowieren lassen. Ich zucke mit den Schultern. Ich habe das Shirt bestimmt nicht angezogen, um einer Mode nachzugehen. Ich wollte nur nicht frieren.
Als ich mit dem Essen fertig bin, packe ich meine Sachen zusammen und gehe.
„Tschüß.“, sage ich.
„Tschüß.“

Sie lächelt.

Anfang und Ende

Bloggen ist schwierig.

Niemand schreibt einem vor, was ein Blog zu beinhalten hat, wieviele Wörter, Zeilen, Zeichen, Großbuchstaben, Kleinbuchstaben, Bilder, Zitate, Links etc zu einem Eintrag gehören. Das Ergebnis solcher Regellosigkeit sind unzählige Weblogs, deren stündliche Neuerungen aus einzeiligen, inhaltslosen Fetzen bestehen, mit denen maximal der Autor selbst etwas anfangen kann und will.
Ich habe nichts dagegen, doch richte an mich selbst den Anspruch, Inhalte vermitteln zu wollen. Wenn man diesen Anspruch mit dem Wissen kombiniert, daß ich es mag, Wörter aneinanderzureihen, steht umfangreicheren Blogs nichts im Wege.

Doch über irgendetwas muß geschrieben werden.

Sicherlich gelänge es mir, mehrere Bildschirmseiten mit der Tatsache zu füllen, daß mir nichts einfällt, was ich denn schriftlich artikulieren könnte. Aber wenn mir nichts einfällt, ziehe ich es vor zu schweigen, schreibe nicht noch darüber.

Lieber schreibe ich über das Leben, über mein Leben. Das ist nicht allzu schwer, begegne ich ihm doch täglich. Ein kleines Notizbuch sammelt wirre Gedanken und erwähnenswerte Ereignisse, die ich dann zu späterem Zeitpunkt ausführlicher formuliere.

Der Spagat zwischen Ehrlichkeit und dem Weglassen scheinbar überflüssiger Dinge ist nicht einfach zu bewältigen. Theoretisch müßte jede Anekdote, die ich verfasse, mit dem ersten Augenblick beginnen, an den ich mich erinnern kann – oder noch eher. Denn wenn man einen Moment lang über ein Ereignis nachdenkt, stellt man fest, daß mehrere andere Ereignisse dazu beitrugen, daß geschehen konnte, was geschah. Diese jedoch haben wiederum ihre eigenen Ursachen…

Vielleicht fällt es mir deswegen zuweilen so schwer, zum Punkt zu kommen, zu erzählen, was ich eigentlich erzählen wollte: Mich drängt das Bedürfnis, alle Hintergründe aufzudecken, alles zur Erzählung Gehörige aufzuzählen, trägt es doch zum besseren Verständnis, zu einer begründeten Meinungsbildung bei.
Doch nicht nur die einleitenden, zum Ereignis hinführenden Worte gestalten sich zuweilen recht schwierig, sondern auch die abschließenden.

Ein Blog sollte eine Pointe besitzen, einen Knaller, ganz zum Schluß, in der letzten oder vorletzten Zeile, etwas, worauf der gesamte zuvor gelesene Text hinarbeitet, etwas, das ihn schließt, vielleicht zum Anfang zurückkehrt, vielleicht eine Frage in den Raum stellt, vielleicht den Lesenden zu weiterführenden Gedanken bewegt.

Doch berichtet man über das „wirkliche Leben“, erweist sich dieser besondere Abschluß als schwierig. Ich selbst stellte schon fest, irgendeinen Text nicht veröffentlichen zu wollen, bloß weil ein ordentliches Ende fehlte, weil ich zwar über eine skurrile Sache berichtete, doch den abschließenden Knaller nicht fand.

Denn das Leben hört nicht auf. Es gibt keinen pointierten Satz zum Schluß, keinen Witz, keine offene Frage. Es geht immer weiter, neue Geschichten, die sich an die alten anreihen, ohne daß irgendwer zwischendurch so freundlich war, „ENDE“ zu schreiben. Neues gründet sich auf Altem, und selbst wenn das eigene Dasein verblich, wird doch die eigene Geschichte in anderen fortgeführt…

Bloggen ist schwierig.

ENDE

Ekel

Gestern Abend belästigte ich meine Mitbewohnerin ein wenig und sah mit ihr fern. Es kam nichts Besonderes, irgendeine Sendung über verhunzte Schönheitsoperationen. Doch in mein Zimmer zurückzukehren hätte bedeutet, mich der Pflicht widmen zu müssen. Und das wollte ich wirklich nicht.
1999/2000 war ich Zivildienstleistender in einem Krankenhaus. Stationen Dermatologie I-III, beziehungsweise: Haut I-III. Eine recht angenehme Arbeit, wenngleich ich bis heute nicht begreifen kann, wie ich es schaffte, morgens um fünf aufzustehen. Ich glaube, ich haßte es.

Aber ich war der Liebling der Patienten, wurde von älteren Damen mit Vorliebe mit „mein Schatz“ oder „mein Engel“ betitelt, mußte schuften, hatte aber auch Tage, an denen ich nur sinnlos rumhing und mit irgendwelchen Patienten quatschte, bis die Zeit rum war.

In dieser Zeit habe ich allerhand Erschreckendes gesehen und kennengelernt. Ich durfte alte Männer duschen [selten], alte Frauen duschen [ein Mal], sah offene, nässende Wunden [haufenweise]. Ich durfte einer OP beiwohnen, in der einer Frau vom Oberschenkel mit einem rasierapparatähnlichen Gerät Haut vom Oberschenkel entfernt wurde. Dieser Hautlappen wurde dann auf die doppelte Größe gedehnt, um ihn anschließend auf eine vorher operierte Stelle zu nähen. Ich sah [und roch], was passiert, wenn der Plastikbeutel eines künstlichen Darmausganges wegen Überfüllung platzt und sein Inhalt sich im gesamten Zimmer verteilt. Ich sah riesige Nähte, schimmlige Füße. Ich durfte braune Kleckerspuren auf dem Stationsgang aufwischen, durfte schwitzende Menschen berühren, schuppige Haut eincremen.

In wenigen Fällen war der Anblick angenehm, zuweilen fühlte ich mich unwohl, doch alles war erträglich, akzeptabel. Ich konnte damit leben, arbeitete eigentlich sogar gern im Krankenhaus.

Gestern Abend jedoch sah ich diese Sendung im Fersehen, sah, wie Brüste aufgeschnippelt wurden, um irgendeinen Kram unter die Haut zu schieben, sah, wie Menschen während ihrer Narkose behandelt wurden als wären sie totes Vieh. Ich sah, wie einer Frau irgendeine fettlösende Flüssigkeit in die Beine gespritzt wurden, die diese dann aufquellen ließ, sah, wie mit einem Sauger unter der Haut hantiert wurde, wie sich die bewegenden Konturen des Saugers außen abzeichneten, fragte mich, was wohl mit dem abgesaugten Fett geschehen würde [Mettwurst?] – und ekelte mich, wollte nicht länger hinsehen.
13 Monate Zivildienst hatten mich abgehärtet, glaubte ich.

„Schalt bitte um.“, bat ich meine Mitbewohnerin.

Menschen 8

Es regnet. Vor dem Magdeburger Allee-Center entdecke ich ein blindes Mädchen. Sie trägt einen Blindenstock in der Hand, benutzt ihn aber nicht, erhält Führung von einem anderen Mädchen, einer Freundin vielleicht. Die beiden meiden die automatische Drehtür, betreten das Einkaufscenter durch den „normalen“ Seiteneingang.
Im Inneren sehe ich eine Rollstuhlfahrerin. Sie steht vor der Drehtür und rührt sich nicht. Bevor ich einen Gedanken fassen kann, begibt sich das führende Mädchen zusammen mit ihrer blinden Begleiterin zu der Frau im Rollstuhl:
„Brauchen Sie Hilfe mit der Tür?“
„Ach nein, ich komme schon klar.“, antwortet sie, dankbar für die Aufmerksamkeit, „Nur meine Kapuze…“.
Während die hilfbereite Blindenführerin vorsichtig die Kapuze über den Kopf der Dame stülpt, frage ich mich, ob einer von uns „normalen“ Menschen auf den Gedanken gekommen wäre, der Rollstuhlfahrerin Unterstützung anzubieten.
‚Die wenigsten.‘, denke ich und seufze leise.

Ampelmenschen

In Gedanken versunken nähere ich mich der Ampel. Rot. Ich bleibe stehen, grüble. Weitere Wartende gesellen sich zu mir.
Nach einer Weile sehe ich auf. Kein Auto weit und breit. Wie auch? Die Ampel steht inmitten einer Baustelle.
Warum also warte ich? Weil ich unbewußt einem Automatismus frönte? Weil ich gut erzogen bin?
Warum warten die anderen? Weil sie nicht sehen, daß hier keine Autos fahren? Weil sie einer Art Herdentrieb folgen und stehenbleiben, wenn andere auch stehenbleiben? Weil sie als gesetzestreue Deutsche rote Ampeln auch respektieren, wenn sie sinnlos sind?
Ich schüttle die Gedanken ab. Die Ampel leuchtet noch immer in warnendem Rot. Egal. Ich gehe. Die Herdentriebler bleiben stehen.
Als ich die Kreuzung längst hinter mir gelassen habe, drehe ich mich neugierig noch einmal um, sehe, daß sich nun endlich auch die anderen in Bewegung setzen.
Die Ampel leuchtet grün.