Vielleicht ist heute Vatertag. Für mich.
Im Herbst vorigen Jahres verstarb mein Vater mehr oder weniger plötzlich an den Folgen von Alkoholismus. Zu diesem Zeitpunkt verweilte ich gerade auf Kreta, nahezu unerreichbar. Ich erfuhr vom Tode meines Vaters durch meinen Bruder, per Telefon.
Der Kreta-Urlaub war eigentlich ein sehr schöner gewesen. Und wie es meine Art ist, schrieb ich jedes bedeutungslose Detail nieder, auf daß man sich später bei der Lektüre lächelnd erinnern möge.
In den letzten Tagen habe ich mich mal wieder daran gemacht, die 50 einzeilig bekritzelten A5-Blätter abzutippen. Angenehm berührt gab ich mich den in Worte gepreßten Erinnerungen hin, genoß die Bilder, die sie in mir erweckten.
Dann las ich vom Tod meines Vaters, von dem Anruf meine Bruders, von der Möglichkeit heimzukehren, um einen letzten Blick auf einen kalten, zurechtgemachten Leib zu werfen, in dem ich nicht das finden würde, was ich liebte.
Ich hatte mich bemüht, meine persönlichen Gedanken, meinen Schmerz, meine Trauer aus dem Reisebericht rauszuhalten, doch spürte, während ich meine eigenen Zeilen abtippte, wieviele Tränen und Zweifel dahinter steckten. Ich mußte innehalten, mit jemandem reden, der mich verstand.
Heute war der letzte Termin zur Abgabe meiner BaföG-Unterlagen. Wie immer hatte ich alles auf den letzten Drücker ausgefüllt und kopiert. Eine Angabe beinhaltete das Sterbedatum meines Vater und die Kopie der Todesurkunde.
Wieder hielt ich inne, atmete tief durch.
Ein Gedanke schoß mir durch den Kopf: Meine Kinder, so ich denn jemals welche haben werde, werden niemals die Gelegenheit bekommen, meinen Vater kennenzulernen. Das betrübte mich.
Als ich zum BaföG-Amt radelte, hatte ich eine Straßenkreuzung zu überqueren. Die Ampel war längst auf Rot geschaltet; die Autos hätten durchsausen können – doch stockten, blieben stehen. Mitten auf der Straßen ging ein Mann, langsam, unsicher.
Er trug einen wilden Bart und eine Lederjacke, die ihm zu groß war. ‚Ein Trinker‘, dachte ich. So dachten wohl auch andere, warteten an der Ampel und schauten der traurigen Gestalt neugierig zu, wie sie sich über die Straße quälte.
Ein Polizeiauto wollte durchfahren, bemerkte den bärtigen Mann, hielt an. Die Insassen glotzen, schauten nur. Die an der Ampel Stehenden glotzten, schauten nur.
Keiner bewegte sich. Jeder schien den Augenblick abzuwarten, bis etwas passierte, bis der Mann stürzte oder ihn ein nahendes Auto anfuhr.
Der Mann ging weiter, langsam, bedächtig, in kleinen Schritten, stürzte nicht, erinnerte mich an meinen Vater, der mit Stolz die Gehhilfen verweigert hatte – und immer wieder hingefallen war.
Ich schwang mich vom Rad, lehnte es an die Ampel, eilte auf die Straße. Die anderen glotzten noch immer.
„Kann ich irgendwie helfen?“, fragte ich den Trinker, stand schon bereit, ihn abzustützen, ihm Halt zu geben, und wußte zugleich, daß er meine Hilfe verweigern würde.
„Nein, danke. Es geht schon.“
Die Stimme, die unter dem wilden Bart hervorquoll, war erstaunlich klar.
Ich zog mich zurück, nur ein paar Meter, beobachtete ihn, um notfalls schnell eingreifen zu können.
Doch der Mann fiel nicht, kam langsam voran, überquerte die Straße und erreichte schließlich die sichere Fußgängerzone.
Die Menge glotzte noch immer, als wäre das Leben eine Fernsehsendung.
Ich schaute dem Mann hinterher, wünschte, ich könnte ihm doch irgendwie helfen, schwang mich auf mein Rad und fuhr davon.
Vor dem BaföG-Amt kam mir jemand entgegen.
‚So hätte Vati ausgesehen, wenn der Alkohol nicht gewesen wäre.‘, durchfuhr es mich.
Ich setzte mich in eine unbeobachtete Ecke und weinte.