Sich zu fühlen, als hätte man geweint, minutenlang, tagelang. Als wären alle Tränen der Vergangenheit, der Zukunft, aus dem Herzen, aus den Augen geflossen, in trübem Fluß vereinigt auf das Leben niedergeprasselt und hätten jeden Schrei, jedes Flüstern erstickt. Das Lächeln löst sich auf in den salzigen Fluten, schmilzt zu kalter Angst, zu heißer Trauer, verwischt zu einer absurden Fratze verlorener Möglichkeiten, zu einem falschen Grinsen im Angesicht des Schmerzes. Als wäre jeder gelebte Tag vergebens, als wäre jeder ersonnene Moment nur Traum, blutet die Seele in die Gedanken, hinein in den Schädel, sprengt die Ketten, die Zwänge, befreit sich gleißend von Wirklichkeit, befreit sich feucht vom eigenen Wesen. Mit roten Augen hinabzublicken und sich auf totem Boden zerfließen, verwesen zu sehen, eingetaucht in das glitzernde Leid, das auf staubigem Beton den eigenen Namen schreibt. Haltlos entziehen sich die Tränenbäche den zitternden Fingern, den greifenden Händen, versickernd müde glucksend im unentrinnbaren Gestern, ein wortloses Bild aus Sehnsucht mit sich in die Tiefe reißend.
Tag: 5. April 2005
Der Diebstahldetektor
In der Bibliothek erfuhr ich heute die Antwort auf eine der Fragen, die ich mir schon häufiger stellte:
Was passiert eigentlich, wenn der Diebstahldetektor am Ausgang Alarm schlägt?
Die Rede ist von diesen mannhohen, plastikverschalten Dingern, die ein elektromagnetisches Feld erzeugen, das dafür sorgt, daß noch nicht bezahlte und daher gesicherte Ware nicht aus Kaufhäusern entwendet werden kann, die starr und unbeteiligt an Ein- und Ausgängen, aber auch an Rolltreppenenden und -anfängen herumstehen, im Fall einer unzulässsigen Bereichsüberschreitung aber geräuschintensiv diesem Umstand kundtun – und womöglich dabei auch noch lustig blinken.
Schon häufiger geschah es beispielsweise im mehrstöckigen, rolltreppenverzierten Magdeburger Karstadtgebäude, daß der Alarm auf diese Art und Weise losging. Doch nie entdeckte ich emsige und vor allem kräftige Sicherheitsbeamte, die in Sekundenschnelle den Verdächtigen gefaßt und seiner Schandtat bezichtigt hatten. Ja, selbst als ich persönlich eine Saturnfiliale verlies und ungeschickterweise zum Auslöser jener Sicherheitsvorrichtung mutierte, dauerte es eine erstaunliche Weile, bis ein wenig überzeugender Sicherheitsbeamter mich, der in Unkenntnis der eigenen Untat verdutzt stehengeblieben war, zur Rede gestellt hatte, obgleich er direkt neben dem Diebstahldetektor mahnend Position bezogen hatte. [Natürlich war ich kein Dieb, hatte nur die mit einem Sicherheitsetikett beklebte Folie einer CD-Hülle zu Reinhörzwecken abgefriemelt und unklugerweise in meiner Manteltasche verstaut.]
Mir selbst sind Fälle von einer damaligen ProMarkt-Filiale bekannt, in denen die alarmbereiten Geräte aus technischen Gründen gar funktionsuntüchtig gewesen waren und somit nur herumstanden, um eine abschreckende Wirkung zu erzielen.
Ich vermute, daß man diesen höflich-drohenden Charakter, diesen Apell an die eigene Ehrlichkeit, bewußt einsetzt, daß also weniger der geräuschintensive Alarm es ist, der Wirkung zeigt, sondern das Gerät an sich, das potentielle Diebe abschreckt – oder zu kreativeren Methoden greifen läßt.
Als ich heute in der universitätseigenen Bibliothek verweilte geschah es gleich zwei Mal, daß übereifrige Studenten das Gebäude zu verlassen versuchten, ohne daß ihre Lektüre ordnungsgemäß entsichert war. In einer eigentlich um Ruhe bemühten Bibliothek ist das alarmgebende Geräusch der Diebstahldetektoren besonders auffällig, und als das Gerät eifrig zu blinken und zu piepsen begann, richteten sich alle Augen auf den vermeintlichen Straftäter.
Doch in beiden Fällen war es der an der Ausleihe sitzende Bibliothekar, den das nervende Geräusch und der womöglich begangene Diebstahl wenig zu kümmern schien. Ohne sichtliches Interesse hob er sein Haupt, blickte zur Tür und formulierte matt fordernd, aber ohne jegliche Brisanz oder Sprachgewalt, ohne jede emotionale Regung, ein einziges Wort, das den potentiellen Kriminellen von seiner sträflichen Untat abhalten, ihn gar zurückrufen sollte:
„Hallo…?“
CrossFadeTalking
In letzter Zeit [welch herrlich ungenaue Zeitangabe] fiel mir bei Gesprächen mit anderen immer wieder eine Unart auf, die ich spontan als „CrossFadeTalking“ betitelte.
Üblicherweise läuft ein Dialog ab, indem die beiden Gesprächspartner einander zuhören und jeweils, nachdem das Gegenüber seinen Gespächsteil beendet hat, aufeinander eingehen. Daß es dabei passieren kann, daß man aneinander vorbeiredet oder gar in derartige Erregung gerät, daß man sich genötigt sieht, den Gesprächsfluß des anderen durch eigene Zwischenrufe zu unterbrechen, halte ich für normal und nicht weiter erwähnenswert. Was mir jedoch mißfällt, ist folgendes Szenario:
Person A [in den meisten Fällen ich selbst] redet. Zugegebenermaßen ist das Erzählte nicht immer von ergreifendem Tiefsinn. [Aber wer kann schon von sich behaupten, nur historisch Bedeutsames von sich zu geben?] Trotzdem setze ich als Redender voraus, daß es mir gestattet sein möge, meinen Gedankengang, und sei er noch so albern, zu Ende führen zu dürfen. Doch bevor das geschieht, setzt Person B ein, beginnt zu reden, ohne Bezug auf die Worte von Person A zu nehmen, die ja noch nicht einmal zu einem logischen Schluß kommen konnten. Person B beginnt zu reden, erst leise, dann lauter, und Person A, also ich, sieht sich mehr oder weniger gezwungen, seinen Gesprächsfluß zu minimieren und schließlich einzustellen.
„Red doch einfach weiter!“, ruft eine Stimme aus dem imaginären Publikum. Doch ich widerspreche: Weiterzureden wäre sinnlos. Zum einen halte ich es durchaus für normal, dem anderen bei seinem Gesagten zuzuhören und selbst zu schweigen, um das Hörbare vollständig erfassen zu können. Zum anderen hätte es wenig Sinn weiterzureden, weil ja Person B, die bis eben noch die Rolle des Zuhörenden belegt hatte, nun selber redet, demnach gar nicht imstande ist, von anderen formulierte Worte vollständig zu erfassen. Ein Gespäch mit einer Wand oder dem Pausenzeichen von Radio Moskau könnte nicht einseitiger sein.
Das Gespräch funktioniert in solchen Augenblicken wie ein Mischpult oder dessen digitales Äquivalent: Track A und B werden ineinander „gefaded“. Während die letzten[?] Töne von Track A erklingen, wird schon Track B gestartet. Die Lautstärke von Track A geht zurück; im Gegenzug steigt die von Track B. Das geschieht solange, bis Track A das Lautstärkeminumum erreicht hat und Track B auf dem früheren Track-A-Lautstärkelevel angelangt ist.
Person A verstummt also, ohne seine Ausführungen beendet haben zu können, während Person B ohne jeglichen Gesprächsbezug losplappert und somit verdeutlicht, daß sie das Zuhören und Erfassen der mitgeteilten Inhalte längst aufgegeben, womöglich gar niemals begonnen hat.
Ich fühle mich durch derartiges CrossFadeTalking unangenehm berührt, stellt es doch in Frage, ob das Öffnen meines Mundes zu Artikulationszwecken überhaupt lohnenswert ist, ob es nicht vorteilhafter wäre, sich in das geräuschreduzierte Schweigen eines stummen Zuhörers zu hüllen, dessen Meinungen und Ansichten derart belanglos sind, daß sie nicht vertont zu werden brauchen.
Bleibt zu hoffen, daß die CrossFadeTalking-Unsitte nicht wuchernd um sich greift und die menschliche Verbalkommukation zu einem steten und stupiden Ineinander- und Aneinandervorbeireden verstümmelt, das nur dazu dient, die Eigenansichten in die Luft zu blasen.
stillgestanden
„stillgestanden!“
brüllt die furcht
mein zittern wird zum zögern
ich atme stumm
fast reglos
fern
doch zeit gerinnt
vergeht
ein dunkler schleier zieht vorbei
als blind den blick ich senke
ich stehe still
bewege nichts
entrinne meinem sein
„stillgestanden!“
ruft die furcht
zieht furchen in mein leben
ein schneckenhaus schützt meinen geist
formt pfad und sinn
zu kreisen.
innersturm
entfesselt bebt der innersturm
frißt den seelensinn
den weg
reißt mit buntgefärbtem licht
schwarzgrimassen aus dem herz
läßt gewalten wortlos tönen
tränenwerfend bebt das haupt
lachend lechzt die seelenwunde
reiß mich
beiß mich
küß mich
tief
tanzt das leben
stampfend
suchend
schreit das herz aus blasser brust
haare flattern tot wie nebel
als der spiegel
klirrend bricht.