Kindertag

In der wahrlich kurzen Stunde, die ich heute damit verbrachte, aus Schuhkauf- bzw Schuhsuchgründen erfolglos durch die Innenstadt zu tigern, begegneten mir heute derart viele Kinder, daß ich für einen Moment überlegte, den 21.04. zum Kindertag zu erklären, bis mir einfiel, daß dieser schon in zweifacher Ausführung existierte, einmal in weltweiter Variante [dieses Jahr am 20. September] und einmal als Restprodukt sozialistischer Feiertagsgewohnheiten [jährlich am 01.Juni]. Ich ließ also von meinem äußerst subjektiven Vorhaben ab und sah mich um.

Auf einem riesigen Kinderspielplatz spielten viele Kinder. Das ist natürlich nichts Besonderes, nichts, was zum Staunen anregt. Doch während die Sonne schien und das Lachen ausgelassener Minderjähriger an mein Ohr drang, wurde mein Geruchsorgan belästigt, ja erniedrigt. Am Spielplatzrand entdeckte ich fünf oder sechs Gruppen junger Erwachsener, augenscheinlich die Eltern irgendwelcher spielender Sprösslinge, die sich wenig um die Tätigkeiten ihres Nachwuchses, sondern eher darum kümmerten, mit möglichst intensivem Zigarettenkonsum nicht nur ihre, sondern auch die Luft der Spaziergänger, geschäftig Vorbeieilenden und – natürlich – der Spielenden zu verseuchen. Ich zähle mich nicht zu den Aggressivnichtrauchern, doch war das Rauchgemeinschaftsverhalten der dort anwesenden Eltern derart ausgeprägt, daß ich mich um die Gesundheit der einatmenden Familienmitglieder zu sorgen begann.

Noch in Gedanken vertieft hört ich eien krächzende Frauenstimme schreien:
„Warte, hab ich gesagt!“
Und: „Du sollst warten!“
Ein vielleicht siebenjähriger Junge stand an einer beampelten Straße. Die Ampel zeigte Grün; weit und breit war kein Auto zu sehen, nur Fußgänger, die einer vielgesichtigen Masse gleich über die leere Straße marschierten. Der Junge hatte noch nicht einmal einen Fuß auf die Straße gesetzt, als die Rufe seiner Mutter ertönten. Verängstigt blieb er stehen und wartete, bis sie eintraf.
„So…“, sagte sie, nahm ihren Sohn an die Hand und zog ihn hinter sich her, während sie über die Straße eilte.
Die Ampel zeigte mittlerweile Rot.

Im Saturn lauschte ich einem dreiliedrigen Album mit befremdlichem, unmerkbarem Namen, bei dem der Gesang zu fehlen schien, während neben mir ein Geschwisterpaar an das letzten freie CD-Abspielgerät drängte. Irgendein Metal-mögender Vorgänger hatte sich – wie viele andere auch – nicht die Mühe gemacht, die von ihm angehörten Werke an ihren ordnungsgemäßen Platz zurückzustellen, und die Saturn-Mitarbeiter schienen mit dieser Aufgabe überfordert zu sein. Das hatte den Effekt, daß ein im Regal Suchender nicht mit dem Finden belohnt werden würde und daß ein kleiner, vielleicht zehnjähriger Junge zielgerichtet die Metal-CDs durchstöberte, „Oarhh, geil!“ ausrief, Metallica beiseiteschob und letztendlich bei Six Feed Under hängenblieb. Das Cover, unter anderem eine nicht geringe Anzahl an Totenköpfen darstellend, schien ihn zu beeindrucken. Und wer ein richtiger Mann ist werden will, der muß auch Metal gutfinden. Laut tönten aus den übergroßen Kopfhörern harte Riffs und unfreundliches Gegrunze, zu dem der Junge im Takt den Kopf bewegte – scheinbar begeistert, anscheinend aber eher, um seine größere, schätzungsweise dreizehnjährige Schwester mit der eigenen Härte zu beeindrucken. Ich tröstete mich damit, daß der Junge sowieso kein Wort verstand und amüsierte mich darüber, wie die Schwester, als die finstermusikalischen Kopfhörer gereicht bekam, die eigenen Ohren vorsichtig in die Nähe der Klänge schob und dann demonstrativ angewidert das Gesicht verzog – was natürlich den Jungen erst recht antrieb, noch ein paar Minuten mit dem Kopf zu wippen und den Metal durch seinen Schädel strömen zu lassen. Dann hatte er genug, seine Schwester hörte etwa 30 Sekunden in den Soundtrack von „König der Löwen“ rein, bevor beide in Richtung des Ausgangs verwschwanden – ohne Metal-CDs natürlich.

Auf dem Rückweg saß ich in der Straßenbahn. Vor mir hatte sich eine Mutti platziert, die sich augenscheinlich nahe der Vierzig [Keine Ahnung, von welcher Seite] befand, aber einen erstaunlich liebenswürdigen Eindruck machte. Ihr Sohn, mit einem niedlichen Kleiner-Prinz-Rucksack versehen, schwieg nie, plapperte ständig vor sich hin – und fragte. Offensichtlich war er gerade in einem Alter, in dem ihn alles und jeder interessierte. Die Mutti antwortete stets freundlich, sanft, leise und ruhig, niemals genervt, niemals irgendwelchen Unsinn von sich gebend, um ihren Sohn zum Schweigen zu bringen.
„Wenn ich hinfalle, auf den Arm, was passiert dann?“
„Dann schabt deine Haut ab.“
„Was passiert dann mit der Haut?“
„Die alte ist weg. Aber es wächst neue nach.“
„Und wenn ich drei Mal auf dieselbe Stelle falle?“
„Dann wird die Wunde tiefer und größer. Aber de Haut wächst immer wieder nach.“
„Und wenn ich Tausend Mal hinfalle?“
So ging das eine geraume Weile. Die Mutter erklärte, was passiert, wenn Knochen brechen, daß Arme nicht einfach so abfallen, wenn man sie vedreht, daß Straßenbahnunglücke schlimm sind usw.
„Was steht hier drauf?“, wechselte der Junge das Thema und zeigte auf seien Caprisonne-Aluminiumpackung.
„Power-Team.“
„Was heißt Power?“
„Power heißt Kraft. Wenn du also davon trinkst, bekommst du ganz viel Kraft.“
Sie probierte selber einen Schluck.
„Mhhh… Lecker.“
Der Junge trank.
„Und?“, fragte die Mutti.
„Es wirkt!“, sagte der Junge mit einem Leuchten im Gesicht und demonstrierte seine Stärke, indem er seine Armmuskeln anspannte. Ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen.
„Was ist hier alles drin?“
Die Mutti las vor: Orangen, Zitronen, Kirschen, Äpfel … und Vitamine. Alles sehr gesund. Von Zucker sagte sie kein Wort. Auch nichts von Aromen oder Konservierungsstoffen.
„Was steht auf der Rückseite?“, fragte der Junge neugierig.
„Das gleiche nochmal. Aber in anderen Sprachen. In Französisch, Italienisch, Englisch …“
„Lies mal vor…“
„Neee…“, lacht sie, „Ich kann doch kein Französisch. Aber ich les dir Italienisch vor.“
Das konnte sie auch nicht, aber sie probierte es zumindest.
„Und jetzt französisch!“, rief der Junge vergnügt.
Die Mutti weigerte sich nicht, bemühte sich wirklich, las ein wenig, der Junge grinste fröhlich, sie lachte – und ich heimlich auch.
Als meine Ausstiegshaltestelle sich näherte, stand ich auf, noch immer innerlich lächelnd, und bedauerte ein wenig, die nette Mutti und ihren aufgeweckten Jungen verlassen zu müssen.