Begleitservice

Eine meiner Aufgaben als Zivildienstleistender im Krankenhaus war es, Patienten zu Röntgen, Computertomographie, Ultraschall etc zu begleiten. In den meisten Fällen war das nötig, wenn der Patient sich alleine nur mühsam oder unsicher [oder gar nicht] fortbewegen konnte oder die Gefahr einer Irrwanderung inerhalb des riesigen Krankenhauskomplexes bestand.

Diese bestand immer. Meine ersten Wochen als Zivildienstleistender waren ein navigatorischen Greuel. Auf meine Orientierungsfähigkeiten war noch nie sonderlich Verlaß gewesen, doch die Ratschläge der wegweisenden Schwestern taten ihr Übriges, um mich komplett zu verwirren. Schließlich waren die meisten genannten Wegziele seit Jahren schon nicht mehr nicht dort anzutreffen, wo sie nach Meinung der Wegweisenden hätten sein sollen. Unterwegs irgendeine weißbekittelte Gestalt zu fragen, war zum einen einigermaßen respektlos [Ich war nur Drecks-Zivi, und bei meinem Gegegnüber konnte sich womöglich gar um einen Chefarzt oder Professor – oder beides – handeln…] zum anderen aber auch erstaunlich erfolglos.

Die wenigsten Krankenhausangestellten wußten tatsächlich wo das Röntgen war, wo ich neue weiße Wäsche bekam, wohin man sich wenden mußte, wenn man diesem oder jenem Arzt etwas zu überreichen hatte.

Ich fragte mich durch – andere Zivis halfen weiter -, suchte, probierte, riet. So viel hatte ich nicht zu tun, als daß ich nicht das ganze Gebäude allmählich durchstöbern konnte. Tatsächlich schlenderte ich eines Tages gelassen den Hauptgang entlang, als mir meine vorgesetzte Oberschwester über den Weg lief, mich herumschlendern sah und verbissen fragte:
„Sie haben wohl nichts zu tun, oder wie?“

Ich hatte tatsächlich nichts zu tun, wenn man von einem Gang zur Apotheke absah, nach dessen Rückkehr mir Langweile drohte. Doch ich schwieg, zeigte auf die Apotheke. Zuzugeben, daß man nichts zu tun habe, konnte desaströs enden.
„Naja, denn…“, giftete die Oberschwester und eilte von dannen. Sie hatte es immer eilig. War immer gestreßt. Und sie konnte mich nicht leiden.

Dazu gab es auch allen Grund; schließlich neigt ein gelangweilter 18Jähriger in einem zehngeschössigen Bauwerk schon einmal dazu, sämtliche Knöpfe im Fahrstuhl zu drücken, bevor er hastig aussteigt – und gerade noch sieht, wie die Oberschwester diesen Fahrstuhl betritt und ihm einen mißtrauischen Blick zuwirft, der später in eine unangenehme Unterredung münden sollte…

Einer der unangenehmsten Wege, die ich innerhalb des Krankenhauskomplexes zu erledigen hatte, war der Auftrag, eine beleibte Frau aus arabischen Landen zum Röntgen zu bringen. Diese verstand zwar kein einziges Wort Deutsch, war aber immer sehr freundlich gewesen und hatte ständig versucht, allen Krankenschwestern, Ärzten und Zivis ihre nicht unbedingt wohlschmeckenden Kekse anzudrehen.

Der Weg zum Röntgen dauerte seine Zeit. Ging ich alleine, konnte ich mit etwa drei bis fünf Minuten Fußmarsch rechnen – ohne Berücksichtigung der Auf-Den-Fahrstuhl-Wartedauer. Mit Patienten dauerte der Weg natürlich wesentlich länger; denn diejenigen, die ihn in gleicher Geschwindigkeit wie ich zurücklegen konnten [und davon gab es glücklichereise genug], waren auf meine Begleitung nicht angewiesen. Der Rest brauchte eben eine Weile.

Die Araberin ging langsam, gemächlich. Das hätte mich nicht weiter gestört, wäre sie nicht in ihren Traditionen und Bräuchen verhangen gewesen, die ihr befahlen, aufzwangen, hinter einem Mann [und sei er noch so jung] hinterherlaufen zu müssen, Abstand zu wahren.
Zuerst begriff ich nicht. Ich ging los, doch sie rührte sich nicht, kam erst allmählich nach. Sie bewegte sich langsam; doch wenn ich anhielt, um sie aufholen zu lassen, blieb auch sie stehen.

Wir kamen kaum voran. Schließlich war es meine Aufgabe, die Frau zum Röntgen zu begleiten, nicht wie ein albernes, berädertes hölzernes Kinderspielzeug hinter mir her dackeln zu lassen. Ich hatte den Auftrag, sie zu führen, ihr, wenn nötig, behilflich zu sein.
Doch sie lief hinter mir, langsam. Immer wieder sah ich mich um, lächelte ihr aufmunternd zu. Doch sie sah mich nicht an, ging weiter und weiter, achtete immer auf den Abstand zwischen uns.

Wenn ich um eine Ecke bog, kam sie mir erst nach, wenn sie sicher sein konnte, daß ich weitergegangen war und nicht auf der anderen Seite wartete. Wenn ich jemanden traf, den ich kannte und mit ihm ein paar Worte wechselte, blieb sie stehen, als gehörte sie nicht zu mir, und ich mußte immer wieder zurückschauen, um mich zu vergewissern, daß sei noch hinter mir war.

Ich glaube, daß ich – noch nicht einmal, wenn ich [gegen die Arbeitsauflangen verstoßend] allein ein gefülltes Krankenbett durch die Gänge karrte – noch nie derart lange für den Weg von der Station zum Röntgen gebraucht habe.
Zum Glück sollte ich die Frau nur abliefern, nicht auf sie warten und sie – vorerst – nicht abholen.

Ich hatte mehr als eine halbe Stunde sinnlos vertrödelt, einzig mit Warten, Schauen und langsamem Gehen.
‚Gute Leistung.‘, dachte ich, meldete mich auf Station ab, ging mit meinem Zivi-Kumpel erst einmal eine geschlagene Stunde lang Essen, wohnte dann noch dem ausgiebigen Kaffekränzchen der Schwestern bei und durfte mich dann umziehen, durfte nach Hause gehen.

Auf dem Heimweg jedoch fühlte ich immer wieder den Drang in mir, mich umzudrehen, glaubte einen Schatten hinter mir gesehen zu haben, der mir unaufhörlich, in stetig gleichem Abstand folgte…