Der gelbe Zettel hatte seine Bedeutung verloren. Ich sollte mich schämen.
Die Zeit verflog; irgendwann im Laufe des heutigen Abends würde Besuch hier eintrudeln und ein einigermaßen aufgeräumtes Zimmer erwraten. Na gut, sowohl „erwarten“, als auch „einigermaßen aufgeräumt“ ist übertrieben. Schließlich erwartet der Besuch, längst mit meinen Daseinsgewohnheiten vertraut, nicht wirklich, ein tadellos aufgeräumtes Zimmer vorzufinden. Allerdings würde ich, selbst wenn ich mir alle Mühe gäbe, so etwas wie Ordnung zu produzieren, an der Unmöglichkeit dessen verzweifeln. Zwar häuften sich weder Müllberge oder Geschirrstabel noch Dreckwäscheklumpen oder vielbeinigig krabbelnde Mitbewohner in meinen vier Wanden, doch herrschte in diesen auch nicht viel mehr als das, was ich als eine Art „kreativer Basisreinheit“ bezeichnete. Alles war auffindbar – irgendwann.
Trotzdem plante ich, eine gewisse Grundordnung herzustellen und sogar den Staubsauger in Benutzung zu ziehen, nicht, um mich in ein bessere Licht zu rücken, sondern um meinem Gast den Aufenthalt hier halbwegs erträglich zu machen.
Nachdem ich also auf der Gitarre herumgeklimpert hatte, viel zu lange einkaufte und meine Wäsche wusch, hätte ich mich wohl dem wenig Angenehmen widmen sollen, um anschließend noch die lästigen Stoppeln aus meinem Anlitz zu entfernen, mir sättigende Abendspeise zuzubereiten und – zu lernen.
Lernen. Seit Tagen machte ich kaum etwas anderes, verbot mir, außer Haus zu gehen, verbot mir, den Sonnenschein zu genießen, Freunde zu treffen, verbot mir, spannende Bücher zu lesen, mit meiner Mitbewohnerin fernzusehen, verbot mir, mich allzu lange im weltweiten Netz zu tümmeln, verbot mir sogar, Musik zu hören. Ich mußte lernen, und mit jedem Tag, mit jeder Minute wurde das „Muß“ drängender, größer, bedeutsamer, beängstigender.
Ich lenkte mich ab. Wieder und wieder.
Mittlerweile hatte ich nahezu alle Bücher gelesen, die mich brennend interessierten; sie stellten keine Gefahr mehr dar. Mittlerweile hatte ich die Gitarre und die Nerven meiner meiner Nachbarn so oft strapaziert, daß ich keien Lust mehr darauf hatte. Mittlerweile hatte ich freiwillig beschlossen, keine Musik mehr hören zu wollen, weil ich mich ohne besser konzentrieren konnte. Mittlerweile freute ich mich über jeden Anruf bei meiner Mitbewohnerin, der mich aus ihrem Zimmer scheuchte.
Heute morgen schuf ich den Zettel. „NO!“ krakelte ich auf ihn. Groß. Schwarz auf Gelb. Unübersehbar. Ich heftete ihn an den Monitor.
„NO!“, rief der Bildschirm, wenn ich überlegte, ob ich mal meine emails abrufen sollte. „NO!“, wenn ich mich in Erwägung zog, bei wikipedia.org einen mir unverständlichen Begriff nachzusehen. „NO!“, wenn ich meinte, an meinem Weblog basteln zu müssen.
Der Zettel hatte recht.
Udn doch verlor er. Als ich das dritte Mal ins Netz ging, riß ich ihn hab, schmiß ihn irgendwo in mein Schreibtischwirrwar und vergaß ihn. Die ersten beiden Male hatte er mich ungemein gestört, blockierte er doch einen großen Teil des Sichfeldes. Doch das sollte meine Strafe sein; meine Strafe für Ungehorsam mir selbst gegenüber.
Das dritte Mal wollte ich mich nicht mehr strafen. ‚Nur kurz.‘, dachte ich und begann, mich in den unendlichen Gefilden des weltweiten Netzes zu verheddern, fand keinen Ausweg, vergaß den knurrenden Magen, das unaufgeräumte Zimmer, die häßlichen Stoppeln im Gesicht, vergaß das Drängen des noch Ungelernten.
‚Ich bin frei.‘, dachte ich kurz, reihte Worte aneinander und erfreute mich ihrer Eleganz. ‚Ich bin frei.‘, dachte ich, tauchte in meine eigene Welt, versank in mir selbst, wo kein „Muß“ herrschte, wo ich lächeln konnte, ohne im Nacken den kalten Atem des Kommenden zu spüren.
Als ich erwachte, saß ich vor meinem Rechner. Der krumme Rücken schmerzte. Worte blinkten auf dem Bildschirm, ergaben keinen Sinn. Die Sonne war längst untergegangen; Dunkelheit verdeckte das Chaos meines Zimmers. Mein Magen meldete sich.
„Jaja.“, murmelte ich, stand auf und stolperte zum Lichtschalter. Die Glühbrine flammte auf, grellweiß, blendete mich kurz, warf ihren hellen Schein auf das Sammelsurium am Boden, auf Hefter und Bücher, auf Blöcke und Notizzettel.
„Gleich.“, sagte ich beschwichtigend zu den fordernd blickenden Lernmaterialien, zu mir selbst.
„Gleich. Erstmal muß ich was essen.“
Selbst in meinen eigenen Ohren hörte sich das wie eine Ausrede an.
Ich schaltete das Licht wieder aus. Bücher und Hefter verwanden.
Erleichtert floh ich aus dem Zimmer.
bei mir hier kleben so viele gelbe Zettel dass sie allein schon durch ihre übertrieben große Anzahl ihren Schrecken verlieren und von mir ohnehin schon nicht mehr wahrgenommen werden.
Weil du mal meintest, du würdest ein Gästebuch vermissen: du könntest das ja so wie hier lösen. Einfach einen solchen Beitrag schreiben und dann den Link unter dem Titel „Gästebuch“ entweder bei deinen Links oder auf andere Art und Weise (da gäbs zu viele sodass ich gerade nicht mal wüsste, wo ich anfangen sollte) im Menü unterbringen. Und wieder eine Idee, die nicht von mir kam.
Zum einfacheren Import großer Mengen an Beiträgen mittels Ausnutzung des RSS-Feeds hat übrigens ein kluger Kopf einen Kommentar bei mir hinterlassen, vielleicht interessiert dich das auch.
REPLY:
Ich entsinne mich deines Aquariumtextes…
Bei mir liegen die Zettel eher anstatt sie kleben. Schließlich sind meien Klebezettel recht preiswerte Produkte gewesen [Werbegeschenke] und neigen nicht zu überdimensional beeindruckender Klebehaltbarkeit. Das heißt, sie flattern sowieso bald durch die gegend, nachdem ich sie irgendwo befestigte. Hinzu kommt, daß Zettel nahezu wahllos ebschrieben werden, sodaß als nicht einheitliches Neongelb herrscht, sondern ein Gewimmel aus Kassenzetteln, Briefumschlägen, zerrissenen A4-Seiten, Bahnfahrkarten – und natürlich Klebezetteln – meien nSchriebtisch und jede andere Ablagefläche bedeckt…