Sauerkraut und Einsiedler

Es gab eine Zeit in meiner Kindheit, in der ich nicht weiter als bis dreißig zählen konnte. Mich erschreckte meine Unwissenheit, ich haßte sie.
Nicht minder haßte ich Sauerkraut.
Und in meinem Kopf fügte sich dies zu einem einzigen Bild zusammen: Alle Zahlen über Dreißig hießen fortan nur noch „Sauerkraut“.
Achtunzwanzig, Neunundzwanzig, Dreißig, Sauerkraut, Sauerkraut, Sauerkraut.

Mittlerweile wurde ich einigermaßen erwachsen und glaubte, mich an Sauerkraut gewöhnt zu haben, glaubte, es würde mir zuweilen sogar schmecken. Heute wurde ich eines Besseren belehrt, gab es doch in der Mensa Sauerkraut als Beilage.
Mit der Wahl zwischen grünen Bohnen, Sauerkraut und „gar nichts“ maßlos überfordert [Ich fand keine der drei Alternativen reizvoll.], überraschte ich mich selbst, indem ich mich für Sauerkraut entschied.
Das war ein Fehler, spürte ich doch schon beim ersten, zögerlichen Versuch, daß mir das Sauerkraut nicht schmeckte, daß der alte Kindheitshaß in mir wieder emporschoß. Sauerkraut, Sauerkraut, Sauerkraut.
Das Lammfleisch paßte sehr gut zum Sauerkraut: Es schmeckte mir auch nicht.

Lustlos stocherte ich in meinem Essen herum, las nebenbei in John Irvings „Garp und wie er die Welt sah“, blickte kurz auf und wurde eines Pärchens gewahr, das flüsternd auf mich deutete.
‚Vielleicht wundern sie sich, warum ich ganz allein der Mensa sitze, mich in ein Buch vertiefe, ohne Gesellschaft, Freunde, Bekannte um mich herum.‘, mutmaßte ich.
Und tatsächlich: Wie um mich zu verhöhnen, schaute das Mädchen noch einmal kurz zu mir herüber, dann zu ihrem Freund, um ihn gleich darauf stürmisch zu umarmen und zu küssen, als würde sie sich erst durch meine einsiedlerische Anwesenheit bewußt, wie schön es war, ihn neben sich zu wissen.
Ich versank erneut irgendwo inmitten der vielen bedruckten Seiten.