„When skies are gray“

Does he kiss your eyelids in the morning when you start to raise your head?
And does he sing to you incessantly from the place between your bed and wall?
Does he walk around all day at school with his feet inside your shoes?
Looking down every few steps to pretend he walks with you.
Does he know that place below your neck that is your favorite to be touched
and does he cry through broken sentences like ‚I love you far too much‘?

[aus: Bright Eyes – „The Calendar Hung Itself“]

Früher und so

Ein Gedanke bei gefuehlskonserve erweckte in mir folgende Überlegung:

Wenn früher alles besser war und auch in Zukunft früher alles besser gewesen sein wird, sollten wir uns über das Heute freuen. Denn es wird mit jedem Tag schlimmer.

[Nebenbei: Ich mag dieses unbestimmt „es“ im vorangegangenen Satz, da somit alles und nicht zugleich ausgesagt werden kann…]

[Im Hintergrund: H-Blockx – „Time To Move“]

Diebstahlpotential

Ich weiß nicht, ob ich sie auslachen oder bedauern würde, würde jemand das Fahrrad meiner Mitbewohnerin klauen, während sie gerade dabei ist, sich ein neues Schloß zu kaufen…

Straßenbahnerlebnisse 10

In der Straßenbahn begegnete ich Adolf Hitler.

Nachdem ich ohne zu Zögern über die befahrene Straße zur wartenden Straßenbahn geeilt und außer Atem in diese eingstiegen war, entdeckte ich einen freien Sitzplatz. Eine Frau um die 50 bot diesen einer Rentnerin an, die kurz vor mir zugestiegen war. Sie lehnte ab, doch die Anbietende wollte sich selbst nicht setzen.

Das Risiko eingehend, für „keck“ oder „frech“ gehalten zu werden, plazierte ich mich kurzerhand auf dem Sitz. Neben mir saß Adolf Hitler.

Er war klein und alt, von gedrungener Gestalt, ein wenig übergewichtig. ‚Das Alter hat ihn zusammenschrumpeln lassen.‘, dachte ich. Sein Haar war längst weiß, doch Bart und Frisur waren noch dieselbe wie vor über 60 Jahren.

‚Selbst wenn er noch lebt, müßte er eigentlich längst tot sein.‘, überlegte ich. Doch Adolf sah weder tot aus noch wie ein 116Jähriger. Allerdings roch er ein bißchen unangenehm. Ich wunderte mich und bewunderte zugleich seine lila Hosenträger.

Als die ihm gegenüber Sitzende sich erhob, um auszusteigen, stand auch er auf. Er gab ihr die Hand, zackig, kräftig, doch überraschend herzlich, fast liebevoll.

‚Das ist niemals Adolf Hitler!‘, stellte ich fest und stieg aus.

Sauerkraut und Einsiedler

Es gab eine Zeit in meiner Kindheit, in der ich nicht weiter als bis dreißig zählen konnte. Mich erschreckte meine Unwissenheit, ich haßte sie.
Nicht minder haßte ich Sauerkraut.
Und in meinem Kopf fügte sich dies zu einem einzigen Bild zusammen: Alle Zahlen über Dreißig hießen fortan nur noch „Sauerkraut“.
Achtunzwanzig, Neunundzwanzig, Dreißig, Sauerkraut, Sauerkraut, Sauerkraut.

Mittlerweile wurde ich einigermaßen erwachsen und glaubte, mich an Sauerkraut gewöhnt zu haben, glaubte, es würde mir zuweilen sogar schmecken. Heute wurde ich eines Besseren belehrt, gab es doch in der Mensa Sauerkraut als Beilage.
Mit der Wahl zwischen grünen Bohnen, Sauerkraut und „gar nichts“ maßlos überfordert [Ich fand keine der drei Alternativen reizvoll.], überraschte ich mich selbst, indem ich mich für Sauerkraut entschied.
Das war ein Fehler, spürte ich doch schon beim ersten, zögerlichen Versuch, daß mir das Sauerkraut nicht schmeckte, daß der alte Kindheitshaß in mir wieder emporschoß. Sauerkraut, Sauerkraut, Sauerkraut.
Das Lammfleisch paßte sehr gut zum Sauerkraut: Es schmeckte mir auch nicht.

Lustlos stocherte ich in meinem Essen herum, las nebenbei in John Irvings „Garp und wie er die Welt sah“, blickte kurz auf und wurde eines Pärchens gewahr, das flüsternd auf mich deutete.
‚Vielleicht wundern sie sich, warum ich ganz allein der Mensa sitze, mich in ein Buch vertiefe, ohne Gesellschaft, Freunde, Bekannte um mich herum.‘, mutmaßte ich.
Und tatsächlich: Wie um mich zu verhöhnen, schaute das Mädchen noch einmal kurz zu mir herüber, dann zu ihrem Freund, um ihn gleich darauf stürmisch zu umarmen und zu küssen, als würde sie sich erst durch meine einsiedlerische Anwesenheit bewußt, wie schön es war, ihn neben sich zu wissen.
Ich versank erneut irgendwo inmitten der vielen bedruckten Seiten.

Spiegel, Gorillaz und Seufzer

Während ich lese, höre ich Musik.

Während ich also in den neuesten Artikeln von SpOn blättere, ertönt Musik aus meinen Boxen. Die Quelle der wahrlich guten Klänge ist der Rechner, die Dateien sind legal erworben. Ich habe ein Recht darauf, ihnen zu lauschen.

Die Werbung auf SpOn hat mich schon immer etwas gestört, ogleich ich durchaus gewisse Bereitschaft zeigte, die Anzeigen zugunsten eines kostenlosen Angebots zu akzeptieren.

Wenn jedoch die Werbeanimation fröhlich vor sich hin flackerte, meine Blicke vom statischen Text ablenke und jegliche Konzentration raubte, war ich geneigt, mich aufzuregen.

Wenn dann noch durch Werbung Teile des Seitenlayouts verdeckt, überlagert, wurden, so daß die Funktionseinschränkung das Lesen erschwerte, zweifelte ich allmählich an SpOn und seinen Werbeträgern.

Der neueste Clou ist die iPod-Werbung. Sie mag durchaus einigermaßen ästhetische sein, doch stört gewaltig. Vor zahllosen Artikeln befindet sich nämlich die iPod-Flash-Animation, der eine eigentlich raffinierte Eigenschaft innewohnt:
Bewegte man die Maus über die Werbefläche, ertönt ein Song-Sample des neuesten iPod-Werbehits. Nimmt man den Mauszeiger wieder von Fläche herunter, schweigt die Musik. Ein simples Konzept, das funktionieren könnte, ohne zu stören.

Doch es stört. Während ich nämlich mp3-Dateien von meiner Festplatte abspielen lasse, wird im Hintergrund die Werbung gestartet. Vielleicht fahre ich versehentlich mit der Maus über die Anzeigenfläche, starte die Hintergrundmusik.
Doch diese erschallt nicht, wartet heimtückisch, bis das aktuelle Lied meines mp3-Players sein Ende findet und beginnt dann mit seiner Endlosschleife.

Denn leider ist nun die MouseOver-Funktion invertiert. Bewege ich den Mauszeiger auf die Fläche, stoppt die Musik, bewege ich sie wieder herunter, geht sie weiter.

Jedoch kann ich nicht die ganze Zeit den Mauszeiger auf einer Stelle verharren lassen, wenn ich doch den gesamten Artikel lesen möchte. Auch bin ich nicht bereit, die Gorillaz über mich ergehen zu lassen, wenn ich gute Musik hören könnte.

Ich rege mich auf, leise nur. Doch allmählich komme ich zu dem Entschluß, daß ich mich an anderer Stelle über die weltweiten Neuigkeiten informieren sollte.

Mit einem Seufzer schalte ich die Boxen stumm, lese ich den Artikel zu Ende, schließe die SpOn-Seite und drehe meine Musik wieder auf.

Motten

Auf einer wahren Begebenheit beruhend.

Es war im Frühling letzten Jahres, als es begann, als ich die erste entdeckte: eine Motte. Keine Motte, wie man sie kennt: der typischen Dreiecksform folgend, ein kleinerer, ergrauter Schmetterling. Nein, es war eine besondere Motte, eine, wie sie mir vorher nur selten begegnet war: graubraun, kaum einen Zentimeter lang, die Flügel dicht an den Leib gepreßt.

Sie mißfiel mir. Auf der weißen Rauhfasertapete wirkte sie deplaziert, überflüssig, falsch. Ein leichtes wäre es gewesen, die nächstbeste Zeitung zu packen, zusammenzurollen und in einem kraftigen Schlag auf das winzige Insekt niedersausen zu lassen. Doch ich zögerte. Nicht, weil ich unansehnliche Flecken auf der weißen Wand befürchtete, sondern weil ich für gewöhnlich darauf verzichtete, Tiere, selbst widerliche, zu töten, bloß weil ich dazu in der Lage war.
Die Motte saß an der Wand und rührte sich nicht. Ich ließ sie sitzen, versuchte, mich nicht um sie zu kümmern. Doch jedesmal, wenn ich durch den Flur in die Küche lief, bemerkte ich den dunklen Schatten, bemerkte ich, daß sich dort etwas befand, dessen Anwesenheit mich störte.
Ich fühlte mich nicht beobachtet, nicht bedroht, dachte nicht an mögliche Löcher in Kleidungsstücken oder an meine möglicherweise vor Ekel kreischenden Mitbewohnerinnen. Nein, einzig und allein das Wissen, das sich dort ein Tier befand, das eigentlich woanders leben sollte, mißfiel mir.

Ich ekelte mich nicht vor Insekten. Aus Prinzip nicht. Nur einmal, als kleines Kind, schrie ich auf, weil irgendein Käfer es sich in meinem Bettlaken gemütlich gemacht hatte und mich mit seiner Anwesenheit nicht nur überraschte, sondern nahezu bedrohte. Das Bett ist ein Heiligtum, darf nicht von Fremdwesen geschändet werden. Ich schrie, schrie nach meinem Bruder, der mich umgehend von dem frevelhaften Käfer befreite.
Die Motte verursachte in mir keinen Ekel. Warum auch? Sie war nicht das schönste Wesen, das ich kannte. Aber das war ich auch nicht.

Nachdem ich jedoch die Motte zwei Stunden lang an ihrer Stelle sitzen gelassen hatte, vermochte ich meinen Unwillen nicht mehr zurückzuhalten und beschloß, ihr höflich aber bestimmt den Ausgang zu zeigen. Ein leeres Glas und ein Fetzen Papier – mehr brauchte ich nicht.
Vorsichtig näherte ich mich dem Insekt, stülpte das Glas über das reglose Tier. Es rührte sich nicht, war nicht interessiert an seiner Umgebung. Vermutlich zählte es, ebenso wie seine typischeren Artgenossen, zu den nachtaktiven Lebewesen und beschäftigte sich tagsüber mit nichts Bedeutsamerem als dem Motten-Äquivalent für Schlaf.
Unter das Glas schob ich den Papierfetzen – eine alte Postkarte – und stupste die Motte damit an. Sie rührte sich, träge, bewegte ihre Flügel und flatterte dann langsam im Inneren des Glases umher, einen Ausweg suchend. Kaum hatte ich die Postkarte richtig positioniert, nahm ich Glas und Papier zusammen von der Wand. Die Motte, ihr Schicksal, befand sich nun in meinen Händen.
Ich betrachtete sie noch einmal. Sie hatte sich bereits wieder beruhigt, saß auf dem Glasrand, krabbelte ein wenig umher, doch schien sich nicht bedroht zu fühlen – soweit ich es beurteilen konnte.
Am Fenster angekommen riß ich die Karte von der Glasöffnung und schüttelte das Gefäß in Richtung Außenwelt. Binnen weniger Augenblicke war die Motte verschwunden. Ich sah sie nicht fortfliegen, doch das Glas war leer. Mit dem ruhigen Gewissen eines tierschützenden Lebensretters begab ich mich wieder in mein Zimmer.

Nach diesem Ereignis begegnete ich immer wieder einer oder gar mehreren Motten im Flur oder in der Küche. Mit eiserner Geduld entsorgte ich Motte für Motte ebenso wie ihren Stammesgenossen. Doch allmählich wurde es mir unheimlich, insbesondere, da nun auch meine Mitbewohner sich darüber beschwerten, zuweilen eines dieser Tiere gesichtet zu haben.
Anja und Patricia regierten wie erwartet: „Iiieeh!!!“, tönte es jedesmal, wenn sie ein Insekt sichteten. „Iiieeh!!!“, tönte es jedesmal, wenn ich mir die Mühe machte, die Motte der Außenwelt zu übergeben.
Martin und Tobias dagegen reagierten vernünftig: Worum handelte es sich bei den Motten? Woher kamen sie? Wie wurde man sie wieder los? Das waren die Fragen, die wir zu beantworten versuchten.
Durch umfangreiche Recherche stellten wir fest, daß es schwierig werden könnte, sich von den wenig possierlichen Tierchen zu befreien. Mit Vorliebe in Mehltüten und Müslipackungen, in Nudelvorräten und anderen, Getreide beinhaltenden Nahrungsmitteln beheimatet legten sie dort ihre Eier und vermehrten sich mit enormer Geschwindigkeit. Das galt es zu verhindern und rief die erste große WG-Mottensäuberungsaktion hervor.

Sämtliche unserer Nahrungsvorräte wurden auf Mottenspuren untersucht, mehrfach, von verschiedenen Personen. Jede Tüte, jede Packung, jedes Glas, wurde genauestens betrachtet, gewendet, gedreht, von allen Seiten beschaut. Verdächtige Lebensmittel wurden sofort weggeworfen, der Müll gleich darauf aus unserer Wohnung entsorgt.
Und überall fanden sie, eingesponnen in winzige, graue Netze: Eier, Motteneier, unscheinbar und doch abstoßend, ekelerregend, widerlich. Sie aufzuspüren war nicht schwer, begann man einmal zu suchen. Doch keineswegs waren wir uns sicher, auch wirklich alle potentiellen Störenfriede beseitigt zu haben.
Anschließend, nachdem unsere Nahrungsmittelbestände drastisch reduziert worden waren, nachdem wir mit verzerrten Mienen jeder einzelnen Motte den Krieg erklärt, jedes zukünftige Flatterwesen mit Flüchen bedacht hatten, nachdem wir uns mit dem angenehmen Gefühl schmückten, etwas Sinnvolles vollbracht zu haben, fühlten wir uns – trotz allem – erleichtert.

Der Rückschlag, die Gegenoffensive, blieb aus. Die Motten waren beseitigt, vertrieben. Wir wußten es zu schätzen.
Jedoch am Ende des Sommers sah ich sie: Eine Motte. Schon wieder! Die Biester gaben einfach keine Ruhe.
Diesmal zögerte ich nicht, dachte nicht länger an schonende Befreiungsaktionen, an eine liebevolle Behandlung. Ich nahm die nächstbeste Zeitschrift zur Hand und schlug zu. Das Klatschen erfreute mich, der graue Fleck an der Wand ebenso. Ich hatte getötet!

Die Zahl der Motten innerhalb der folgenden Wochen hielt sich in Grenzen. Immer mal wieder tauchte eines von diesen Untieren auf, klebte höhnisch an einer weißen Wand, verspottete mich, verspottete uns und unseren Versuch, der Plage habhaft zu werden. Ich tötete sie, tötete sie alle.
Wenn ich eine meiner Mitbewohnerinnen kreischen hörte, wußte ich schon Bescheid, kam herbeigeeilt, um zu töten, zu vernichten, nichts als einen ekligen grauen Fleck übrig zu lassen. Ich erntete keinen Dank; nur ein angewidertes „Iiieeh!!!“ folgte meiner Untat. Derselbe Laut, der die Abscheu über die Existenz der Motte bekundet hatte, verkündete auch die Abscheu über deren Ableben.
Längst war es mir egal, ob ich nun mit einer Zeitung oder der flachen, bloßen Hand zuschlug, ob ich einfach nur einen schnellen Hieb tätigte oder das widerliche Getier unter meinen Fingern langsam zerquetschte.
Es bereite mir kein Vergnügen, doch es mußte sein, war ich doch in unserer Wohngemeinschaft nicht nur der größte, derjenige, der am besten an alle Stellen herankam, sondern auch derjenige, den es am wenigsten störte, die Viecher zu beseitigen, die unsere Wohnung verseuchten. Ich wurde zum Beschützer, zum offiziellen Mottenjäger, Mottenvernichter ernannt, eine Aufgabe, der ich ohne Scheu, ohne Bedenken nachging.

Es wurde Herbst, Winter. Das zunehmend kühlere Wetter ließ nicht nur die kurzen Kleidungsstücke, sondern auch die Motten verschwinden. Wir atmeten auf. Vielleicht hatten wir es überstanden.
Im Frühling dieses Jahres waren sie zurück: Motten. Nicht übermäßig viele. Nur hin und wieder eine einzelne. Und noch eine. Es war entmutigend.
Die zweite große WG-Mottensäuberungsaktion wurde initiiert. Wir waren der Motten allmählich überdrüssig, konnten, wollten, sie nicht mehr sehen. Lustlos, ohne den gleichen akribischen Enthusiasmus, der uns im Vorjahr befähigt hatte, die mühevolle und langwierige Prozedur durchzuführen, ohne den Glauben an den Erfolg unseres Tuns, begannen wir, unsere Nahrungsmittel zu beschauen, auszusortieren. Wir fanden nahezu nichts, doch waren wenig erleichtert, wußten wir doch, daß sie wiederkehren würden, daß wir keine Chance hätten.

Als hätten sie gespürt, daß wir aufgaben, als hätten sie unsere Niederlage erahnt, sah ich sie nun häufiger. Manchmal erwischte ich zwei, drei, von ihnen an einem Tag. Sie versteckten sich auf dem dunklen Braun der Holzbalken, auf Kabeln und in Zimmerecken. Ich tötete Motten in meinem Zimmer, war entsetzt, sie auch dort zu finden.
Ich übersäte die Wände mit Flecken. Kaum ein Quadratmeter verblieb ohne unschöne Erinnerung an einen Tod, an eine dieser häßlichen Kreaturen. Wegwischen half nicht. Der graue Mottenstaub hinterließ Spuren, die nicht beseitigt werden konnten.
Ich verzweifelte, dachte mir neue Methoden aus, sie zu erledigen, sie loswerden zu können.
Wieder begann ich damit, ein Glas über meine Opfer zu stülpen, sie langsam von den Wänden zu lösen, sie einzusperren und schließlich zu entlassen. Doch nicht in die Freiheit, nicht in die Außenwelt. Nein, ich entließ die Motten in ihren Tod, in ihr Verderben, spülte sie gnadenlos den Abfluß hinunter. Wasser erledigte die Drecksarbeit für mich.
Ich war des Tötens längst überdrüssig. War es mir anfangs noch egal gewesen, ekelten mich nun nicht nur die Motten, sondern auch ihr Ableben an. Ich wollte sie nicht länger zerdrücken, nicht länger zerquetschen, nicht länger auslöschen. SIe sollten nur fortbleiben, für immer fort. Ich hoffte, daß das Wasser, der Abfluß, ihnen die Gelegenheit gäbe, zu entfliehen, weiterzuleben, hoffte, daß ich nicht alle von ihnen getötet hatte. Ich fühlte mich schlecht, minderwertig.

Die Wände bezeugten es: Ich war ein Mörder, ein Massenmörder. Unzählige Leichen, Leichenteile, Leichenspuren klebten überall, wohin ich mich in dieser Wohung auch bewegte. Sie verfolgten mich, jagten mich so, wie ich sie jagte.
Ich führte Statistik, doch hielt nicht lange durch. Zu groß war ihre Zahl, zu groß die Zahl derer, die ich tötete, die durch meine Hand starben – oder vom Wasser gerettet wurden. Ich konnte nicht mehr.
Egal, wohin ich mich bewegte, konnte ich sie sehen. Wenn ich durch die Wohnung eilte, schaute ich nicht zu Boden. Nein, ich blickte auf die Wände, auf die Balken, auf die Kabel, ich sah in die Ecken, in die Ritzen, überall dorthin, wo ich schon welche von ihnen gefunden, aufgespürt, hatte. Ich sah sie. Überall.
Ich entwickelte einen Blick dafür. Niemand anderes bekam sie noch zu Gesicht. Ich war immer schneller. Ich kannte bald jeden Fleck an den Wänden, wußte, welches Bohrloch mich stets von Neuem narrte, wußte, wo ich zu suchen hatte. Meine Blicke wanderten automatisch in alle Richtungen. Zielsicher streiften sie über die Zimmerdecke, über die Tapete, über die Möbel. Ich würde sie finden, egal, wo sie sich versteckten. Ich brachte ihnen den Tod, ihr Ende. Sie hatten es nicht verdient zu leben, wenn sie es nicht geschafft hatten, sich vor mir zu verbergen.
„Ich finde euch.“, murmelte ich, während ich des Nachts heimlich durch die stille WG schlich, „Ich finde euch alle!“
In meinen Träumen fand ich sie. Sie fanden mich. Wir jagten uns. Sie waren übergroß, überall, häßlich und grau. Ich konnte ihnen nicht entkommen.

Als ich begann, in fremden Wohnungen die Decken, die Wände abzusuchen, nach Motten zu forschen, mich nahezu nach ihnen zu sehen, verspürte ich zum ersten Mal Angst. Angst vor ihnen. Angst vor den winzigen Tierchen, die mich nicht losließen, die immer wiederkehrten.
Ich hatte Angst vor meinen Träumen, Angst davor, überall nach ihnen Ausschau zu halten. Ich ertappte mich dabei. Immer wieder. In meiner Wohnung. In anderen. Sogar auf der Straße, in Cafés, in Kaufhäusern.
Und ich sah sie. Ich glaubte, sie zu sehen. Blickte ich ein zweites Mal, waren sie verschwunden, hatten mich meine Sinne nur genarrt. Ein Schatten. Ein Loch. Ein Nagel. Keine Motte.

Vielleicht gab es gar keine Motten, begann ich zu überlegen. Vielleicht bildete ich mir das alles nur ein. Vielleicht verlor ich allmählich meinen Verstand.
Wann hatten meine Mitbewohner zum letzten Mal eine Motte entdeckt, mich auf eines dieser abscheulichen Insekten aufmerksam gemacht? Wann? Ich konnte mich entsinnen.
Gab es die Motten überhaupt? Gab es sie – wirklich?
Ich hatte unzählige von ihenn zerdrückt, heruntergespült, hatte sie getötet, ausgelöscht, vernichtet. Doch gab es sie?
Waren die Flecke an den Wänden echt? Waren diese kleinen, zentimetergroßen, graubrauen, flugelbewehrten, staubigen Wesen Wirklichkeit, ihr Tod, ihre abscheuliche Existenz?
Ich wußte es nicht, nicht mehr.

Ich tötete weiter, täglich, wieder und wieder. Sie gaben nicht auf, ließen mir keine Ruhe. Ich zerschmetterte, ertränkte sie, begann sogar, sie wieder freizulassen. Doch ich schwieg, verlor gegenüber meinen Mitbewohnern kein Wort mehr. Kein einziges. Vielleicht war ich verrückt. Doch ich wollte es nicht wissen. Niemals.
Ich tötete, schreckte längst nicht mehr vor Fliegen, vor Spinnen zurück. Irgendwie waren es alles Motten. Ungeziefer. Parasiten. Eklige, abstoßende, widerwertige Viecher.

Als ich gestern erwachte, waren meine Hände ergraut. Staub bedeckte alle Finger, bedeckte meine Handflächen, bedeckte die Knöchel und Nägel, bedeckte die gesamte Haut. Bis zum Handgelenk.
Ich kannte diesen Staub. Graubraun. Fein. Ein wenig schmierig. Ich hatte ihn hundertfach gespürt, gesehen, weggewischt, abgewaschen. Mottenstaub.
Er klebte an meinen Händen, grau und häßlich, häßlich und grau, entstellte sie, entstellte mich.

Ich sprang aus dem Bett, rannte ins Badezimmer, zum Wasserhahn. Wasser. Seife. Mehr. Mehr!
Ich wusch, seifte mich ein, wusch weiter, intensiver, fand eine Bürste, schrubbte und schrubbte.
Meine Haut schmerzte, brannte. Ich spürte es. Doch der Staub klebte an mir, klebte am Waschbecken, an Wasserhahn und Bürste, überall, wich nicht.
„O nein. Bitte nicht.“, stammelte ich, immer wieder, und schrubbte, bis ich mein eigenes Blut sah. Rot sickerte es durch graubraunen Mottenstaub, tropfte zäh und träge in das schmierige Keramikbecken, rann meine Arme hinab, klebrig, warm.
Ich hielt inne, vernahm meinen keuchenden Atem, spürte das Herz in meiner Brust rasen. Ich träumte nicht. Der Schmerz in meinen Händen, das Blut, der Staub – alles war real. Was konnte ich tun? Wie konnte ich meinen Händen, dem Staub, den Motten entrinnen? Würde ich ihnen jemals entkommen? Nach allem, was ich tat?

Ich rannte zurück in mein Zimmer, vorbei an fleckigen Wänden, deren Weiß längst verging, vorbei an Ritzen und Ecken, an Kabeln und Balken, vorbei an all den Orten, wo sie lauerten, auf ihren Tod warteten. Ich schmetterte die Zimemrtür hinter mir zu, verschloß sie, warf mich zurück ins Bett, weinte, schrie, weinte, schlief ein.

Es ist spät. Meine Mitbewohner sorgen sich, drohten bereits, die Tür aufzubrechen, wenn ich nicht freiwilig öffnen würde, wenn ich nicht hinauskäme. Seit zwei Tagen sitze ich hier und verstecke mich.
Ich werde dieses Zimmer nicht verlassen, die Tür nicht öffnen, kein Fenster. Sie warten. Ich weiß es. Sie warten auf mich. Überall. Ich lasse sie nicht herein. Niemals.
Niemals…

Gesprächsfetzen 7

„Was klackt denn da in der Küche? Sind das vielleicht die Platten vom Herd?“
„Ja, das ist wegen der Plattentektonik.“
„Da gibt es bestimmt bald ein Herdbeben.“