Emppu

Als ich den Straßenbahnsitzplatz ergattert hatte, wurde mir bewußt, daß es ein Fehler gewesen war, sich hierhin zu setzen. Nicht, weil es unbequem war, nicht, weil unangenehme Menschen um mich herumstanden. Nein, mich störte der Umstand, daß ich nicht in Fahrtrichtung blicken konnte. Dabei war mir egal, ob ich Sicht nach außen hatte. Es bestand auch keine Gefahr aufkommender Übelkeit, wie es bei manchen Zugfahrern verbreitet ist, die sich prinzipiell ans Fenster und prinzipiell in Fahrtrichtung setzen müssen.

Nahezu alle Sitze in dieses Straßenbahnwagons waren in „richtiger“ Richtung angeordnet. Nur meiner nicht. Ich schaute also allen entgegen, konnte gar nicht anders, als alle anderen anzublicken. Ich versuchte, aus dem Fenster zu sehen, doch interessierte mich die falsch herum vorbeigleitende Umgebung wenig. Menschen sind interessanter.

Schnell hatten meine Augen das interessanteste Objekt ausgemacht: Ein junger Mann mit sauber gestutztem Bart und langem, blonden Haar. Der Bart sah komisch aus. Nicht minder komisch wirkten die beiden Nietenarmbänder. Ich habe nichts gegen Nietenarmbänder, doch sie sollten sich in das Gesambild einfügen. Hier wirkten sie aufgesetzt, unnatürlich. Die Kapuzenjacke trug die Aufschrift „Anthrax“, eine Metalband, von der ich zugegebenermaßen nicht viel kannte. Sein schwarzer Armeerucksack war bestückt mit unzähligen Aufnähern. Metallica. Ich seufzte innerlich und ohne Begeisterung. Die schwarze Wollmütze auf seinem Schädel erweckte einen albernen Eindruck.

Er blickte zu mir. Schnell sah ich weg, scheinbar in die vorbeifliegende Umgebung vertieft. Zuweilen ist es gefährlich, allzu neugierig zu sein. Menschen neigen zu aggressivem Verhalten, wenn man sich zu sehr für sie interessiert.

Als ich wieder hinsah, spielte er mit seinem Nietenarmband. Scheinbar war es ihm genauso ungewohnt wie es aussah. Neben mir wurde ein Platz frei. Er setzte sich, starrte mich an, schaute weg, starrte wieder. Freundlich erwiderte ich seinen Blick.

„Wo hast du die Jacke gekauft?“, stotterte er mit erstaunlich piepsiger Stimme und zeigte auf mein Samtjacket. Ich war verdutzt, versuchte mich zu erinnern. „Moment.“, antwortete ich lächelnd, „Gleich fällt es mir ein.“ Im Geiste begann ich zu hoffen, daß ich das Jacket nicht in H&M oder einem ähnlich uninteressantem Laden erworben hatte.

Dann erinnerte ich mich: „In einem Second-Hand-Store in Halle.“ Das klang gut. Alternativ. Das übergroße C&A-Schild, das ich nach dem Kauf hastig von der Innentasche entfernt hatte, erwähnte ich nicht.
Er nickte mir zu. „Sieht gut aus. Wie Emppu. Von Nightwish.“

Ich zuckte mit den Schultern, wußte nicht, ob mich nun freuen sollte oder nicht. Nightwish. Nun ja. Kenne ich, mag ich nicht. Emppu? Keine Ahnung, wer das ist.

Noch während ich nach einer Antwort suchte, hielt die Bahn. Ich sah aus dem Fenster, stand auf.

„Hier muß ich raus.“, sagte ich und floh.


[Emppu]

Erkannt

In fremder Person erblicke ich eine andere, betrachte sie, erkenne sie aus zukünftigen Erinnerungen, mag sie, schenke ihr ein Lächeln, als wüßte ich.
Einzig ihr Gesicht stimmt nicht, stört, scheint falsch, gehört nicht zum Leib, den zu kennen ich glaube, gehört nicht zu meiner Erinnerung.
Mein Lächeln trifft nicht ein, erweckt ein kaltes Schweigen.

Gespräch

Ich versuche, dir nicht zuzuhören, mich woandershin zu denken. Ich wollte dich nicht treffen, nicht sehen, keinesfalls hören. Dein Mund speit Wissen, fades Besserwissen. Ein hohler Bach plätschert zwischen deinen Lippen hervor, kennt alle Antworten, löst alle Rätsel. Ich hüte mich zu fragen, rede, ohne zu meinen. Wäre ich hier, wäre ich falsch.

Dicke Bäuche und blaue Augen

Als ich heute die Freundin einer Freundin sah, mußte ich feststellen, daß sich ihr Bauchumfang seit unserer letzten Begegnung erheblich vergrößert hatte. ‚Ist sie etwa schwanger?‘, wunderte ich mich. Doch ich schwieg, wagte nicht, die Frage an sie persönlich zu richten.
Denn sich bei einer Frau zu erkundigen, ob sie schwanger sei, obwohl sie es nicht ist, kann für den Neugierigen durchaus schmerzhaft enden.
Ängstlich verhüllte ich meine Frage mit Stille.

Wieder was gelernt

Heute war ich inkonsequent.

Prinzipiell neige ich dazu, McDonalds und BurgerKing zu meiden, nicht zuletzt weil ich deren Eigentitulation als „Restaurants“ übertrieben euphemistisch finde. Hinzu kommt, daß ich in den Filialen weder geschmacklich noch sättigungstechnisch überzeugt werden kann, da spätestens nach einer halben Stunde der angeblich verdrängte Hunger zurückkehrt .

Was mich jedoch am meisten stört, ist der viele Müll, den jeder einzelne Konsument produziert. Ich schämte mich nach jedem Verzehr fastfoodiger Mahlzeiten und beschloß eines Tages, in Zukunft weder zu BK noch zu McD zu gehen.

Heute jedoch war ich inkonsequent, brach meinen Beschluß, den ich mehrere Monate lang über aufrechterhalten hatte. Doch ich hatte Hunger, wirklichen Hunger. Hunger, der nicht durch die verbleibenden drei Toastbrotscheiben in meinem Regalfach gestillt werden konnte. Hunger, der auf der Stelle versorgt werden wollte.

Ich ging also zu McDonalds. Die Filiale war voll von pinken Punks. Kaum hatte ich mein Essensimitat erhalten, suchte ich eine abseits gelegene Ecke. Das sich auf meinem Tablett befindliche Blatt bot während des In-den-Mund-Schaufelns nur wenig Unterhaltunsgwert. Einzig die Rückseite vermochte es, mich ein wenig zu fesseln, war doch dort eine riesige Tabelle abgedruckt, aus der hervorging, wieviel Kilokalorien, Fett und Kohlenhydrate jedes einzelne McD-Produkt besaß.

Ich stellte also fest, daß ich während der Lektüre mehr als 1000 kcal zu mir nahm. Leider konnte ich diese Zahlendimension nicht einordnen, weswegen mich das weder beeindruckte noch schockierte. Auch als ich ausgerechnet hatte, daß soeben exakt 50 Gramm Fett in meinen Magen gewandert waren, war ich wenig überrascht.

Ich trank aus und ging. Ungutes Essen im Bauch. Unnütze Zahlen im Kopf.

Der morgendliche Wurm im Ohr 14

Als ich am heutigen Morgen erwachte, wuselte mir ein Liedchen durch den Kopf, das ich schon eine geraume Weile nicht mehr vernahm. Mal wieder war ich darüber belustigt, weder einen inhaltlichen noch einen musikalischen Bezug zu meinem Dasein herstellen und somit irgendwelche Gründe für das Vorhandensein des Liedes in meinem Schädel finden konnte.
Annett Louisan – „Das Gefühl“