Bruch

Die Erinnerung läßt Tränen glänzen. Nur kurz. Ein Schmerz schmettert mich nieder. Findet meine Tiefe. Ich folge den Bildern in die Stille, atme den Augenblick, als würde er nie vergehen. Klänge tosen durch meine Sinne, glätten Wogen, berühren mein Lächeln. Wirklichkeiten drehen sich im Kreis, als Hektik in meine Ruhe platzt, Worte tönt, die Fremdem gelten. Blind, die Klänge verzerrend, das Flüstern ausgereizt zu grellem Lachen. Vergangenheiten entgleiten und lassen mich zurück – meine Kümmerlichkeit begreifend, erfassend, die neuerliche Flucht ersehnend…

Joggblog

Nachdem ich gestern erstmalig etwas in einem Bioladen erwarb, wollte ich heute eine weitere Premiere zelebrieren: Joggen.

Vor drei Jahren hatte ich es mit meiner damaligen Freundin schon einmal gewagt, um den nahegelegenen Teich zu joggen. Sie war konditionell auf dem Tiefpunkt und schlich mehr oder weniger vor sich hin, während ich mich bemühte, durch winzigste Trippelschritte mit ihr mitzuhalten. Das war derart anstrengend, daß ich es ihr gegenüber zu Worten formulierte und mir dadurch einigen Ärger einheimste. Nicht zuletzt aus diesem Grund wagte ich es nie wieder, mit ihr zusammen joggen zu gehen.

Danach versteckte ich mich, wenn mal wieder der Gedanke ans Joggen mein Gehirn bepflanzte, hinter fadenscheinigen Ausreden. Meine liebste war, daß mir das geeignete Musikaspielgerät fehlen würden. Das war tatsächlich so, denn mein Discman-Imitat war nicht nur zu groß und zu klobig, sondern hielt auch die andauernden Erschütterungen nicht aus, so daß der Musiksalat in meinem Ohr zu einer Qual wurde. Außerdem fehlte mir eine geeignete Haltevorrichtung für das Gerät.

Eine andere Lieblingsausrede ergab sich nach meinem Umzug. Hier gab es nur wenig Grünes in der Nähe, und wenn, dann war es nicht ausreichend, um stundenlang hindurchzurennen. Als nächsten größeren Park kannte ich nur den Stadtpark, wobei übertrieben war zu behaupten, er wäre „nah“ gewesen – ich benötigte mit dem Rad schließlich mindestens 15 Minuten, um dorthin zu gelangen. Ein Auto besaß ich nicht, hätte ich aber auch nicht benutzen wollen. Dementsprechend erachtete ich die Entfernung zur nächstbesten Joggingumgebung als zu weit, um ernsthaft mich mit dem Gedanken ans Joggen auseinandersetzen zu wollen.

Gestern Abend jedoch entschloß ich mich spontan dazu, es heute wagen zu wollen. Zum ersten Mal [Das wirkliche erste Mal zähle ich nicht.]. Allein. Im Stadtpark. Ohne Musikabspielgerät.

Zurückblickend stelle ich fest, von mir selbst, von meiner Leistung enttäuscht zu sein. Das Joggen diente schlichtweg einer Verbesserung meiner Kondition. Doch diese schien gar nicht vorhanden zu sein, obwohl ich noch gestern Abend das Gegenteil behauptet hätte.
Zugleich jedoch bin ich ermutigt, will es unbedingt morgen noch einmal probieren.

Trotzdem machte ich mir während des Laufens bereits Gedanken zu Optimierung und über das Joggen an sich.

1) Rase niemals wie ein Irrer zum Jogging.
Ich hatte tatsächlich die einfachste Variante für mich gewählt, um zum Stadtpark zu gelangen: Mein Fahrrad. Leider neige ich dazu, auf einem Fahrradsattel sitzend mir immer alles abzuverlangen, selten langsam zu fahren, selten Ruhe walten zu lassen.
Zwar klingt es selbst in meinen Ohren wie eine Ausrede zu behaupten, ich hätte einen Teil meiner Leistungsfähigkeit schon vor dem Start verschossen, doch werde ich in Zukunft gemächlich in den Stadtpark radeln.

2) Beginne bereits in aller Frühe.
Für einen Samstagmorgen ist 9 Uhr eigentlich nicht zu früh. Doch zum einen tummelten sich innerhalb des Parkes und in dessen Nähe schon zahlreiche andere Läufer, zum anderen bekam bereits ich erste Heuschnupfenandeutungen zu spüren. Davon ausgehend, daß derlei Unannehmlichkeiten zu früherer Stunde verringert werden, plane ich, morgen zeitiger aufzustehen, um anschließend ein wenig zu joggen, danach heimzukehren, zu duschen [eine wahre Wohltat!] und in aller Ruhe ein leckeres Frühstück zu verspeisen.
Heute unter Dusche überraschte ich mich selbst, indem ich tapfer vorerst nur kaltes Wasser benutzte. Als ich jedoch mir damit die Haare waschen wollte, erwies ich mir gegenüber die Großzügigkeit, heißes Wasser zu verwenden. Denn eigentlich liebe ich es eher zu heiß als zu kalt…
Auch das Frühstück war eine Überraschung. Zu einer riesigen Tasse ausreichend gesüßtem Pfefferminztee servierte ich mir drei Scheiben erwähnenswert guten Biobrots und den gestern gekauften Bioquark, in den ich Unmengen von Omas selbstgemachter Erdbeermarmelade einrührte. Ich befürchte fast, in Zukunft mit Birkenstocksandalen rumzulaufen und zum vegetarischen Müslimampfer zu mutieren…

3) Grüße andere Jogger.
Erstaunlicherweise wurde ich heute zwei Mal gegrüßt. Ich kann mich nicht entsinnen, den Personen, ein Mann und eine Frau, beide jeweils mit nichtgrüßender männlicher Begleitung, jemals zuvor begegnet zu sein. Doch empfand ich das Grüßen zwar als verwunderlich, aber nicht als unangnehm. Eher im Gegenteil. Diejenigen, die mit gesenktem Kopf an mir vorbeiliefen, waren mir wesentlich unsympathischer.

4) Löse das Schlüsselproblem.
Meine Jogginghose hat drei Taschen. Doch ich vertraue ihnen nicht, denn keine von ihnen ist verschließbar. Leicht kann es geschehen, daß mein Schlüsselbund Freude daran findet, mal eben hinauszuhüpfen und auf dem Kiesweg ein Sonnenbad zu nehmen, ohne daß ich es merke.
Dabei hatte ich das Schlüsselbund schon auf das Nötigste reduziert: Auf meinen Wohnungsschlüssel und meinen Fahrradschlüssel – beide sind keineswegs vernachlässigbar und störten mich trotzdem. Schließlich hatte ich mir den Schlüsselring wie einen echten auf den Mittelfinger gesteckt und die beiden Schlüssel in der rechten Hand verwahrt.
Mir mißfällt jedoch der Gedanke, irgendeine – sich nicht derzeit in meinen Besitz befindliche – Gürteltasche oder ähnliches mitführen zu müssen, bloß um den albernen Schlüssel nicht verlorengehen zu lassen.
Ich war immerhin schon so clever, meine mit Wasser gefüllte Plastikflasche am Fahrrad zurückzulassen und nicht während des Laufens bei mir haben zu wollen.

5) Vergiß die Strecke.
Ich hatte mir vor dem Lauf keinerlei Strecke ausgesucht, dachte mir, ich könne einfach durch den Park an der Elbe entlanglaufen, bis mir die Puste ausging. Das funktionierte tatsächlich, doch war ich ständig versucht, anhand irgendwelcher Bauten auf der anderen Elbseite ausmachen zu wollen, auf welcher Höhe ich mich mittlerweile befinde, ob es nicht an der Zeit wäre umzukehren usw. Derartiges lenkt ab und stört.
Ich führte auch keine Uhr mit mir, keinen Schrittzähler oder anderen Schnickschnack, wollte es nicht auf Leistung und Zahlen ankommen lassen. Doch war ich ständig versucht herauszufinden, wie weit ich schon gekommen war. Immerhin kenne ich jetzt zumindest diese Strecke und brauche mir in Zukunft keine Gedanken mehr darüber zu machen.

6) Vergiß die anderen.
Andere Jogger stören mich. Nicht wirklich. Aber ein bißchen. Die Entgegenkommenden sind mir eigentlich egal. Doch diejenigen, die vor oder hinter mir laufen, können durchaus zur Plage werden.
Ich mag es nicht zu überholen, mag es nicht, so zu tun, als wäre ich besser in Form oder ähnliches, bloß weil ich größere Schritte mache. Noch schlimmer ist vielleicht das Überholtwerden. Das geschah aber erst, nachdem ich aufgegeben hatte. Ein Mann in viel zu kurzer Hose rannte an mir vorbei. Als ich mich dann dazu entschlossen hatte, auch noch ein paar Meter laufen zu wollen, hatte ich ihn schnell eingeholt. Ich merkte aber, daß ich nicht viel weiter kommen würde, ohne mich völlig zu verausgaben, was bedeutete, daß ich ihn zwar überholen könnte, aber in wenigen Minuten endgültig aufhören, dementsrepchend zurücküberholt werden würde. Darauf hatte ich keine Lust, weswegen ich das Joggen für den heutigen Tag komplett abbrach.

7) Laß es ruhig angehen.
Ich war einst Leichtathlet, spezialisiert auf Mittel- und Langstrecken. So sah auch mein Jogging-Start aus: Viel zu schnell, überhastet. Ich brauchte ziemlich lange, bis ich mich soweit zurückgenommen hatte, um mich nicht zu überfordern und ein Tempo zu laufen, bei dem das Joggen auch Spaß machte. Natürlich hatte dieser Startspurt einiges an Kraft gekostet, weswegen ich schon bald merkte, daß der heutige Jogging-Tag kein glorreicher werden würde.
Tortzdem kämpfte ich eine geraume Weile mit mir, bis ich zu der Feststellung gelangte, daß ich nichts erzwingen, mich nicht völlig niederzumachen brauchte. Ich habe keine Pfunde zu vernichten, keinen Ehrgeiz, irgendwelche Muskelpartien aufzubauen, sondern einzig und allein den Wunsch, mir etwas Kondition zu verschaffen und daran Gefallen zu finden.

8) Besorg dir Musik.
Ich glaube, daß meine oben genannte Ausrede nur partiell eine war und daß es sich mit angenehmen Klängen im Ohr auch besser läuft. Leider ergibt sich auch hier die Frage nach der Verstaumöglichkeit für das Musikabspielgerät.

9) Kleide dich passend.
Diese Forderung ist zugleich leicht und schwer zu erfüllen. Meine Schuhe, das merkte ich heute, sind zum Joggen ungeeignet. Es ist das einzige Sportschuhpaar, das ich besitze, doch habe ich keine große Lust, unzählige Euros in neue zu investieren. Ich werde sehen, was die nächsten Versuche bringen.
Meine Kleidung war heute eindeutig zu warm, zu dick. Die lange Jogginghose sollte gegen eine kurze oder halblange ausgetauscht werden [Mal sehen, ob ich derartiges im Kleiderschrank finde.]. Auch reicht ein T-Shirt als Oberteil. Sich mit extrasuperfetzigen Joggerklamotten aus synthetischem Megaactionmaterial auszustatten, halte ich für einigermaßen albern, auch wenn diese [die Oberteile zumindest] vermutlich über verschließbare Taschen verfügen.
Ich fragte mich sowieso, wie die anderen Jogger es mit ihrer Bekleidung handhabten, waren sie doch teilweise recht luftig angezogen. Das ist für das Laufen sicherlich angebracht, doch anschließend der beste Weg, sich eine Erkältung einzufangen, zumindest, wenn man mit dem Fahrrad oder zu Fuß unterwegs ist.
Doch sah ich genug Jogger, die nach dem Lauf an ihren Autos standen, Flüssigkeit in sich hineinschütten und mit watteweichen Frotteehandtüchern den Eigenschweiß entfernten. Das empfand ich als etwas befremdlich, wirkte es doch auf mich wie ein Fitneßstudio im Obergeschoß, zu der eine Rolltreppe hinaufführt.

Erstaunlicherweise bin ich motiviert genug, um es morgen in aller Frühe noch einmal zu wagen. Ich weiß nicht, wie ich morgen nach dem Aufstehen darüber denken werde oder wie lange diese Euphorie anhält; doch das ist vorerst bedeutungslos, kann ich mich doch heute eines gelungenen Tagesanfangs erfreuen.
Die Dusche danach war belebend, das Frühstück doppelt lecker und das Gefühl in den Beinen, das mir mitteilt, tatsächlich etwas geleistet zu haben, gefällt mir durchaus.
Ich könnte mich daran gewöhnen.

Besuch im Bioladen

Gestern besuchte ich einen Bioladen. Das war nicht das erste Mal in meinem Leben, daß ich diesen Laden aufsuchte [sondern das zweite], aber das erste Mal, daß ich plante, mir tatsächlich etwas zu kaufen.
Mein Kühlschrank war leer und das Portemonaie einigermaßen gefüllt, so daß ich mir derartigen Luxus mal erlauben konnte. Ich hatte es mir schließlich verdient. Womit auch immer.

Schon die Anordnung der Fahrräder vor dem Laden zeugte von alternativem Lebenswandel. Die für Ordnung sorgenden Fahrradständer existierten, doch wurden ignoriert. Wildes Parken verwehrte sogar den Zugang zu ihnen. Ich kämpfte mich durch, schloß mein Rad trotzdem dort an. Nicht aus Ordnungsliebe oder Gesetzesergebenheit oder gar aus Protest gegen die Protestler. Nein, in Ermangelung eines eigenen ausklappbaren Fahrradständers an meinem Rad benötigte ich einfach nur irgend etwas, um mein Gefährt anzulehnen.

Der Laden war klein. Zwei Verkäuferinnen und eine Handvoll Kunden hielten sich in ihm auf. Erstaunlicherweise war das Angebot trotzdem immens. Ich glaube, wenn man die traditionellen Supermärkte um ihre „Non-Food-Abteilung“ [so heißt das tatsächlich] berauben würde, stünde der Bioladen gar nicht mehr so mickrig da.
Ich sah mich um. Mein erster Besuch hatte mich einigermaßen auf die Preise vorbereitet. Doch nicht genug. Eine Flasche Apfelsaft für drei Euro. Camembert für zwei Euro. Cherry-Tomaten für 7,49 Euro das Kilogramm.
Der übliche Einkaufswagen war durch einen schönen Bastkorb ersetzt worden. Die Flaschenrücknahme funktionierte nach einem kreativen, mit eigenen, erläuternden Zeichnungen versehenen Prinzip.

Manches war Schwachsinn. Manches überraschte mich.
Beispielsweise bin ich ein genereller Tofu-In-Frage-Steller. Nichts gegen Tofu an sich. Doch der Versuch, Fleisch mit Nichtfleischlichem zu imitieren [Es gab tatsächlich Geschnetzeltes, Bratwürste usw.], wirkte auf mich recht albern. Auch brauchte ich keine Maschine [Ich konnte nicht genau erkennen, wozu sie diente.], die mit Holz verkleidet wurde, um so das mechanische Innere ökostylisch zu verpacken.
Schön fand ich es, Erdnußbutter zu entdecken. Oder Badewannenwasserfarben.

Ich traute mich aber nicht, etwas zu kaufen, war zu geizig, wollte mir dann doch nicht so viel „Gutes“ gönnen, von dem ich nicht vollends überzeugt war.
Letztendlich entschied ich mich für ein paar Cherry-Tomaten [Erstaunlicherweise packt man im Bioladen sein Gemüse und Obst auch nur in durchsichtige Platiktüten.], für Öko-Quark und Brot.

Brot und ich sind zwei Todfeinde. Selten schaffe ich es, ein halbes Standardbrot zu verzehren, bevor es unangenehm aushärtet. Das hat weniger mit mangelnder Nahrungsaufnahme zu tun als mit dem Gedanken, daß es unzählige Dinge gibt, die leckerer, „spannender“ sind als Brot.
Deswegen war ich angenehm überrascht, wie klein die agebotenen Brote im Bioladen waren. Dafür waren sie auch preisintensiv. Ich wählte ein niedliches Exemplar [Ich habe leider vergessen, welche Körner dort den Hauptanteil bildeten, welchen Namen das Brötchen – hihi – trug.], das mich ansprach, und bezahlte.

Das Bezahlen dauerte erstaunlich lange. Vermutlich muß man als Alternativer auch gelernt haben, keine Hektik zu verbreiten. Erst hatte ich zu warten, dann wurde das Brot umständlich eingepackt, dann noch auf irgendeiner Liste ein paar Notizen gemacht.
Das Brot selbst kostete zwei Euro, weswegen ich verdutzt aufblickte, als ich nicht mehr als drei Euro zu bezahlen hatte. Na gut, ich konnte meinen Einkauf in einer Hand halten – er war also nicht sehr umfangreich gewesen; trotzdem hatte ich das Gefühl, eigentlich recht wenig gelöhnt zu haben.

Mir selbst im Geiste ein paar Pluspunkte auf mein Gutmenschenkonto schreibend verabschiedete ich mich und radelte nach Hause.

Erster-Mai-Chili

„Bist du morgen da? Beim traditionellen Erster-Mai-Chili?“

Als Antwort hätte ich ein „Ja.“ erwartet. Oder auch ein „Nein. Da bin ich bei …“.
Vielleicht auch eine Frage:
„Ach, morgen ist der erste Mai?“, „Wer kommt denn alles?“ oder „Was fürn Chili?“.
Ich hätte mich auch zufriedengeben mit „Was gibts denn da zu essen?“

Doch die einzige Antwort, die ich erhielt, war:
„Nö.“, ein Blick in den Spiegel, „Warum ist meine Haut nur so trocken?“

Vatertag

Vielleicht ist heute Vatertag. Für mich.

Im Herbst vorigen Jahres verstarb mein Vater mehr oder weniger plötzlich an den Folgen von Alkoholismus. Zu diesem Zeitpunkt verweilte ich gerade auf Kreta, nahezu unerreichbar. Ich erfuhr vom Tode meines Vaters durch meinen Bruder, per Telefon.

Der Kreta-Urlaub war eigentlich ein sehr schöner gewesen. Und wie es meine Art ist, schrieb ich jedes bedeutungslose Detail nieder, auf daß man sich später bei der Lektüre lächelnd erinnern möge.
In den letzten Tagen habe ich mich mal wieder daran gemacht, die 50 einzeilig bekritzelten A5-Blätter abzutippen. Angenehm berührt gab ich mich den in Worte gepreßten Erinnerungen hin, genoß die Bilder, die sie in mir erweckten.
Dann las ich vom Tod meines Vaters, von dem Anruf meine Bruders, von der Möglichkeit heimzukehren, um einen letzten Blick auf einen kalten, zurechtgemachten Leib zu werfen, in dem ich nicht das finden würde, was ich liebte.
Ich hatte mich bemüht, meine persönlichen Gedanken, meinen Schmerz, meine Trauer aus dem Reisebericht rauszuhalten, doch spürte, während ich meine eigenen Zeilen abtippte, wieviele Tränen und Zweifel dahinter steckten. Ich mußte innehalten, mit jemandem reden, der mich verstand.

Heute war der letzte Termin zur Abgabe meiner BaföG-Unterlagen. Wie immer hatte ich alles auf den letzten Drücker ausgefüllt und kopiert. Eine Angabe beinhaltete das Sterbedatum meines Vater und die Kopie der Todesurkunde.
Wieder hielt ich inne, atmete tief durch.
Ein Gedanke schoß mir durch den Kopf: Meine Kinder, so ich denn jemals welche haben werde, werden niemals die Gelegenheit bekommen, meinen Vater kennenzulernen. Das betrübte mich.

Als ich zum BaföG-Amt radelte, hatte ich eine Straßenkreuzung zu überqueren. Die Ampel war längst auf Rot geschaltet; die Autos hätten durchsausen können – doch stockten, blieben stehen. Mitten auf der Straßen ging ein Mann, langsam, unsicher.
Er trug einen wilden Bart und eine Lederjacke, die ihm zu groß war. ‚Ein Trinker‘, dachte ich. So dachten wohl auch andere, warteten an der Ampel und schauten der traurigen Gestalt neugierig zu, wie sie sich über die Straße quälte.

Ein Polizeiauto wollte durchfahren, bemerkte den bärtigen Mann, hielt an. Die Insassen glotzen, schauten nur. Die an der Ampel Stehenden glotzten, schauten nur.
Keiner bewegte sich. Jeder schien den Augenblick abzuwarten, bis etwas passierte, bis der Mann stürzte oder ihn ein nahendes Auto anfuhr.

Der Mann ging weiter, langsam, bedächtig, in kleinen Schritten, stürzte nicht, erinnerte mich an meinen Vater, der mit Stolz die Gehhilfen verweigert hatte – und immer wieder hingefallen war.
Ich schwang mich vom Rad, lehnte es an die Ampel, eilte auf die Straße. Die anderen glotzten noch immer.

„Kann ich irgendwie helfen?“, fragte ich den Trinker, stand schon bereit, ihn abzustützen, ihm Halt zu geben, und wußte zugleich, daß er meine Hilfe verweigern würde.

„Nein, danke. Es geht schon.“
Die Stimme, die unter dem wilden Bart hervorquoll, war erstaunlich klar.
Ich zog mich zurück, nur ein paar Meter, beobachtete ihn, um notfalls schnell eingreifen zu können.
Doch der Mann fiel nicht, kam langsam voran, überquerte die Straße und erreichte schließlich die sichere Fußgängerzone.

Die Menge glotzte noch immer, als wäre das Leben eine Fernsehsendung.
Ich schaute dem Mann hinterher, wünschte, ich könnte ihm doch irgendwie helfen, schwang mich auf mein Rad und fuhr davon.

Vor dem BaföG-Amt kam mir jemand entgegen.
‚So hätte Vati ausgesehen, wenn der Alkohol nicht gewesen wäre.‘, durchfuhr es mich.

Ich setzte mich in eine unbeobachtete Ecke und weinte.

Altmodisch?

Nennt man eigentlich die Kleidungsstücke einer Person, die schon ein paar Jahrzehnte auf dem Buckel hat, sich aber trotzdem – ihrem Alter entsprechend – modisch kleidet, auch
altmodisch„?

„Einmal: Spiegeleier mit Zufall, bitte!“

In Ermangelung „echten“ Brotes entschloß ich mich heute morgen, Toast verspeisen zu wollen. Zwei Spiegeleier sollten die Mahlzeit kulinarisch aufwerten.
Ich entsann mich, daß in der Vergangenheit die letzten Toastscheiben stets fast noch „roh“ gewesen waren, als der Toaster sie auswarf. Selbiges schien auch einer meiner Mitbewohner festgestellt zu haben, hatte er doch den Toaster auf „So-Lange-Wie-Irgend-Möglich“ eingestellt.
Ich brutzelte also nebenbei an den Spiegeleiern herum, als ich mich wunderte, warum das Toasten denn heute so viel Zeit in Anspruch nahm. Mit einem fachmännischen Kennerblick durchschaute ich die Situation: Jemand hatte die Toastdauer maximiert.
Allerdings, das wußte ich, bedeutete die Maximaltoastdauer auch eine Maximalschwarzverfärbung, eine Maximalacyrlamidisierung meines Toasts.
Ohne zu zögern betätigte ich den „Stop“-Knopf. Der Toast kam rausgesprungen, gesellte sich zu den mittlerweile fertigen Spiegeleiern.
Hungrig biß ich in die gerösteten Brotscheibe.
‚Lecker!‘, dachte ich.
Tatsächlich kann ich mich nicht entsinnen, jemals eine so angenehm geröstete Scheibe Toast verspeist zu haben.
‚Der Zufall ist ein Meisterkoch.‘, beschloß ich beglückt.

[Im Hintergrund: Halloween – „Master Of The Rings“]

Der morgendliche Wurm im Ohr 20

Die von mir bewohnte WG ist verhältnismäßig groß. Das muß sie auch sein, beherbergt sie doch schließlich fünf Studenten zuzüglich diverser spontan oder regelmäßig auftauchender Gäste. Die Größe und die WG-gerechte Anorndung der Zimmer bringt es mit sich, daß der Korridor, von dem die einzelnen Zimmer abzweigen, wie ein Schlauch durch die gesamte Wohnung führt. Das wiederum hat zur Folge, daß die Wohnungstürklingel nur für die Bewohner der ersten zwei, drei Räumlichkeiten hörbar ist – natürlich unter der Voraussetzung, daß keiner von ihnen sich gerade dezibelintensiven Klängen widmet, was aber durchaus zuweilen geschieht.

Um arglose Klingler nicht stundenlang ungehört vor der Außentür stehen zu lassen, installierten wir eine Art Klingelverlängerung, eine lautstarke Hupe, die kraftvoll in den Flurgang dröhnt, sobald die Klingel betätigt wird. Das System funktioniert erstaunlich gut und besitzt nur einen einzigen Haken: Es ist laut, immens laut, zumindest, wenn man sich gerade neben der Hupe befindet, wenn diese losgeht – oder wenn man durch sie aus dem Schlaf gerissen wird.

6.23 Uhr. Es klingelt. Es hupt. Noch einmal. Nochmal. Wieder und wieder.
Durch den Krach aus der Tiefschlafphase herausgezerrt, stehe ich auf, mürrisch, werfe mir ein paar Kleidungsstücke über und eile verdrossen zur Gegensprechanlage, um den sadistischen Dauerklingler zur Rede zu stellen.
Auf dem Gang begegnet mir meien Mitbewohnerin, die der Lärm ebenfalls aus den Federn gerissen hatte.
„Ich glaub‘, es hackt!“, meint sie.
Neben der Klingel steht schon Mitbewohner 1, der Bewohner des eingangstürnächsten Zimmers, ratlos, aber scheinbar schon eine Weile wach:
„Ich habe schon versucht ranzugehen…“
Ich hebe den Hörer der Gegensprechnanlage ab, vernehme nichts.
„Ja!“, rufe ich hinein, hörbar schlechtgelaunt.
Keine Reaktion.

Ich stapfe in mein Zimmer zurück, suche meine Brille, werfe mir ein weiteres Kleidungsstück über und stürme dann die 103 Stufen nach unten, um dem bösartigen, vermutlich fliehenden Klingler noch zu begegnen.
Ich reiße die Haustür auf, doch draußen ist niemand.
Auch als ich mich umsehe, entdecke ich niemanden Verdächtiges. Kein Notfall, keine alarmierende Feuerwehr, auch keine wegrennenden Schulkinder, kein befreundeter Spontanbesucher. Nichts.
Mit Runzelfalten auf der Stirn steige ich die 103 Stufen wieder hinauf, schließe die Tür und verkrieche mich ins Bett.

An tiefen Schlaf ist jedoch nicht mehr zu denken – ich schlummere dahin. 9 Uhr wollte ich spätestens aufstehen.

Doch kurz nach 7 Uhr vernehme ich ein erneutes, lautes Tröten, langanhaltend diesmal. Keine Klingel, begreife ich sofort. Das kommt von draußen. Nach etwa einer halben Minute ist es vorbei.
Aber ich bin wach. In der Küche höre ich meinen Mitbewohner rumoren und frage mich, ob man denn wirklich morgens um sieben abwaschen muß. Von draußen dringt Baulärm herein, rückwärtsfahrende und stetig brummende und piepende Kieslaster, Bodenbeben verursachende Wegplättungsmaschinen, die Rufe unbeschäftigter Bauarbeiter. Irgendwo im Haus bohrt jemand. Unaufhörlich.
‚Ich sollte wohl aufstehen.‘, denke ich müde und schleppe mich unter die Dusche.

In meinem Kopf jedoch erkingt ein angenehmes Lied, ein morgendlicher Wurm im Ohr, der meine Laune immerhin zu retten vermag:

Samsas Traum – „Der Wald Der Vergessenen Puppen“

Wieso drang über Nacht die Angst in unsere Geschichte ein?
Wie konnte ein Mensch, schön wie Du,
Innerlich nur so hässlich sein?

Guten Morgen.

Traumkokolores

Nicht häufig kann ich mich an meine Träume erinnern. Jedoch die von letzter Nacht sind mir noch immer im Gedächnis.

Der erste handelte von einer Art Prüfung. Die Prüflinge mußten anstehen, um irgendwann geprüft werden zu können. Unglaublich, wieviele Studenten neben, vor und hinter mir anstanden. Es bildeten sich riesige Menschenschlangen. Diese wurden abgefertigt wie auf einem Flughafen. Mit Schaltern, Drehtüren und so weiter…

Der zweite Traum war recht wunderlich. Ich träumte von Frau Kokolores, besser gesagt: von ihrem Weblog.
Ich entsinne mich noch genau des Headerbildes: Ein Leuchtturm auf blauem Grund. Eine simple, comicartige Zeichnung.
Der neueste Eintrag des Weblogs beinhaltete eine endlose Auflistung von Fotos, auf denen Tassen zu sehen waren. Allesamt mit verschiedenen Leuchtturmmotiven [Ich erinnere mich auch an beigefarbene…]. Frau Kokolores hatte diese vielen Leuchtturmmotivkaffeetassen zum Geburtstag bekommen, freute sich nun darüber wie ein kariertes Honigkuchenpferd und bedankte sich recht artig bei allen Schenkenden.
Scheinbar war sie versessen auf Kaffeetassen mit Leuchtturmmotiv.

Was hatte das nur zu bedeuten…?

Über Liebe, Abhängig- und Unvollständigkeit

Liebe ist kein Triumphzug
Sie ist nur ein schwaches
Halleluja.
“ [Janus]

Ein Faktor innerhalb der Liebe, dem ich bisher wenig Beachtung schenkte, ist die Abhängigkeit. Ich meine nicht die Liebe als Sucht, sondern die Abhängigkeit vom Objekt der eigenen Liebe.

Die Freundin meines Mitbewohners war unlängst in Irland – für acht Monate. Im Herbst wird Sie für weitere acht Monate nach Wales reisen. Diese Ferne würde mich vermutlich zerfetzen. Ich bin der Ansicht, daß Liebe jedes Hindernis zu überwinden vermag [wie romantisch…], und glaube, daß auch hier nach den Monaten der Trennung die Liebe in neualten Blüten erstrahlen wird. Acht Monate sind ein kurzer Zeitraum im Angesicht einer ewig währenden gemeinsamen Zukunft [woran Liebende nunmal zu glauben pflegen]…

Warum aber fährt Sie fort? Warum läßt Sie einen Wartenden zurück, der vermutlich nicht anderes kann, als wegen Seiner Studien hier zu bleiben? Warum verharrt Sie nicht im Alltäglichen?

Ich kenne die beiden, ihre Beziehung, und freue mich für Sie, die Fortfahrende, leide zugleich mit ihnen beiden ob ihrer anstehenden Trennung. Doch Er neigt zu Gewohnheiten, zur Stagnation, zu Prinzipien in jeder Lebenslage, neigt dazu, Sie vergessen zu lassen, wie wichtig Sie für Ihn ist. Und das ist Sie zweifelsohne. Zwar wagt Er selten eine zärtliche Berührung, einen Kuß, eine Umarmung, doch bemüht Er sich, Ihr jeden Weg zu erleichtern, Ihr mit allen, einer Öffentlichkeit aussetzbaren Mitteln zu zeigen, wieviel Sie Ihm bedeutet.

Ich bin mir nicht im Klaren über ihre Zweisamkeiten, doch sicher darüber, daß viele Gewohnheiten in das Leben der beiden eingezogen sind, aus denen auszubrechen sich zuweilen lohnen würde.
Vielleicht flieht Sie tatsächlich, nicht für immer, nur für ein paar Momente, um Ihre Beziehung anschließend noch höher schätzen gelernt zu haben, um die Alltäglichkeiten wieder zu lieben.

Alltäglichkeiten werden in jeder Beziehung auftreten, werden zwei Menschen unbewußt aneinander fesseln. Davor fürchte ich mich nicht. Doch Furcht überkommt mich in dem Augenblick, in dem sich herausstellt, daß außer Alltag nichts verblieb.

Für Ihn, den Zurückbleibenden, stellt sich noch ein weiteres Problem dar: Ein fester Teil Seines Hier und Jetzt nimmt Abstand, verweilt in der Ferne [und ist dort mit Interessantem, Neuem konfrontiert und voerst abgelenkt…]. Sein Verlorensein ist unabdingbar, ein Verlorensein in einer Welt, die nur noch aus Ihm selbst besteht.

Und das ist es, was ich mit Abhängigkeit meine. Hat man einmal tiefe, innige Liebe im eigenen Herzen entdeckt, so ist das Fehlen dieser einer Unvollständigkeit gleichzusetzen, die zwangsläufig zu Unbehagen führt. Erfahren zu haben, was Liebe bewirkt, was sie bedeutet, läßt ihre Abwesenheit schmerzen, als hätte das eigene Leben eine Bereicherung erfahren, deren anschließendes Fehlen aber ein Loch, eine namenlose Leere bedeutet.
Liebe ist ein Luxus, den man nach dessen Gewinn nicht mehr missen möchte.

Dazu gehören auch die Alltäglichkeiten.
Diese erwecken das Bewußtsein der Gegenwart der Liebe, werden schließlich untrennbar mit ihr verbunden. Die gemeinsamen Gewöhnlichkeiten stellen also trotz ihrer Profanität etwas Besonderes dar, da sie zum Symbol der Liebe und deren Tiefe geworden sind.
Fehlt nun durch Trennung auch jene unbedeutende Alltäglichkeit, bekommt der Liebende die Abhängigkeit von Liebe, von mit Liebe verbundenen Gewohnheiten zu spüren, führt die gleiche Leere wie jener, dessen Existenz der Liebe völlig beraubt wurde.

Liebe, selbst wenn sie noch nicht in gemeinsame Alltäglichkeiten ausarten konnte, bedeutet Abhängigkeit. Denn selbst der frisch Verliebte sehnt sich nach Zeichen, nach Bestätigung und vermag sich ohne Symbole, welche die Gegenwart der Liebe verifizieren, nicht wirklich glücklich zu fühlen.

Jeodch bin ich nicht so vermessen, diese Abhängigkeit als etwas grundlegend Negatives zu erachten, ist es auch sie nur ein Symbol für eine Schönheit, die jeglicher Beschreibung trotzt, für ein Empfinden, dem wohl die höchste aller Bedeutungen zukommt.

[Im Hintergrund: Nine Inch Nails – „With Teeth“]