Osterzeremonie

Es gibt in meiner Familie nur wenige erwähnenswerte Traditionen. Diejenigen, die zu erwähnen ich gewillt wäre, sammeln sich um die weihnachtlichen Feiertage und betreffen vorwiegend Mahlzeiten und die Abfolge der Geschenkdarbietung. Zu Ostern jedoch gab es nie viel Standardisiertes, wenn man vom üblichen Eierverstecken und -finden [nach Möglichkeit im Garten der Großeltern] absieht.
Eines jedoch war jedes Jahr gleich: Wenn am Morgen des Ostersonntages alle vom fleißigen Langohrhoppeltier versteckten Eier und Süßigkeiten aufgefunden worden waren, verzog sich mein Vati stets in seinen Sessel, um fernzusehen.
Mein Vati war kein gläubiger Mann. Während seiner Entziehungskuren mit den Anonymen Alkoholikern und deren Sitten konfontiert hatte er nur ein müdes Lächeln für die penetrant häufige Erwähnung des Wortes „Gott“ übrig. Die Kirche war in seinen Augen eine Institution, deren Inhalte höchst fragwürdig und zuweilen Grund zur Aufregung waren.
Und doch sah er sich jeden Ostersonntag die Ansprache des Papstes im Fernsehen an – in voller Länge, mit Tränen in den Augen.
Ich begriff das nie, doch schätzte ich die seltenen Augenblicke tiefer Regung, war oft selbst den Tränen nahe.
Vielleicht war er bewegt vom Anblick tiefster Gottesfurcht. Vielleicht fand er in diesen Minuten einen Weg, ein Loch in seienr Seele zu füllen. Vielleicht berührte ihn aber auch nur die Schönheit dessen, was er sah.
Ich weiß es nicht, werde es nie erfahren. Im Herbst letzten Jahres verstarb mein Vati.

Als ich heute las, der gesundheitliche Zustand des Papstes würde sich zunehmend verschlechtern, als ich von seinen vergeblichen Versuchen erfuhr, eine Osteransprache zu halten, wurde mir bewußt, daß in diesem Jahr niemand aus meiner Familie den Fernseher angeschaltet hatte, um sich die übliche Segnungszeremonie anzusehen.
Der Sessel blieb leer.
Und ein skurriler Gedanke fand mich und krallte sich in meinem Schädel fest:
Die Osteransprache des Papstes entfiel, weil mein Vati nicht zuschaute.
Sie entfiel, weil in seinem Sessel niemand saß, aus der Ferne der Zeremonie beiwohnte und Tränen für einen Gott vergoß, an den zu glauben er niemals zugegeben hatte..