In den meisten Dingen, das alltägliche Dasein betreffend, halte ich mich für einen geduldigen Menschen.
Mir macht es nichts aus, Menschen Dinge erklären zu müssen, die sie nicht begreifen und selbst nach mühevoller detailliert ausgearbeiteter Erläuertung immer noch nicht erfassen. Gehen Gegenstände kaputt, bin ich vermutlich der letzte, der ausfallend reagiert, der erschrocken zusammenzuckt oder anfängt zu weinen ob des tragischen Ereignisses. Ich beteilige mich an der anschließenden Aufräumaktion, jedes Trara vermeidend und rede – falls nötig – dem Unfallverursachenden beruhigend zu.
Wird eine Ampel eine geraume Zeit nicht Grün, so bemerke ich es kaum, bin zuweilen zu sehr versunken in meine Träumereien, um überhaupt einen Farbwechsel wahrzunehmen, werde jedoch selbst bei wachem Bewußtsein nicht in Rage geraten und um Sekunden kämpfen, sondern – falls ich in Eile bin – Alternativen suchen oder geschehen lassen, was geschieht. Auch Straßenbahnfahrerei vermag mich nicht meiner Ruhe zu entreißen, obgleich mein Mitbewohner dazu neigt, jede verlorene Sekunde zu verteufeln und jede Umsteigevariante drei Haltestellen vorher zu planen und durchzudenken. Ich dagegen steige dort aus, wo ich es für sinnvoll erachte, und füge mich den eigentümlichen Fahrplänen des öffentlichen Personennahverkehrs.
Nein, ich halte mich nicht für schicksalsergeben, bin bereit zu kämpfen für die Dinge, die ich zu erreichen wünsche, zu fordern, was ich mir denke, bin imstande, über Umpäßlichkeiten zu fluchen und alles anders zu träumen. Doch genug Dinge geschehen, die unfreundlicher Gedanken nicht wert sind, die es nicht wert sind, die Geduld ihretwegen zu verlieren.
Ich neige dazu, zuweilen erst nach dem vereinbarten Zeitpunkt einzutreffen, eine Eigenschaft, die weltweit nicht wirklich geschätzt wird. Sicherlich liegt dieses Verhalten nicht zuletzt darin begründet, daß ich es nicht mag, zu früh anwesend zu sei und sinnlos einige Minuten töten zu müssen, und im Gegenzug fünf Minuten Verzug für unbedeutend erachte.
Wenn ich Menschen in Hast durch die Gegend hetzen sehe, denke ich gerne an die grauen Herren aus Michael Endes Kinderbuchklassiker „Momo“ und frage mich, was die Eilenden mit der gesparten Zeit machen, ob sie – dem Beispiel der grauen Herren folgend – diese zu Zigarren formen und ununterbrochen verrauchen, ob sie sie der inhaltlosen Leere des heimischen Fernsehprogramms opfern – oder ob sie tatsächlich aus den gesparten Augenblicken Gewinn schöpfen können, der jede Hektik rechtfertigt.
Natürlich bin ich mir im Klaren, daß den wenigsten Menschen das Warten auf andere gefällt, und neige dazu, mir gegebenenfalls zeitliche Sicherheitspolster zu schaffen, um rechtzeitig einzutreffen und den Wartenden nicht zu einem solchen werden zu lassen. Im übrigen bin ich dann stets zu früh da, viel zu früh, so früh, daß ich mich frage, warum ich mir so viele Gedanken um mein punktgenaues Eintreffen gemacht hatte.
Doch glaube ich in mir die Fähigkeit zu wissen, einigermaßen geduldig warten zu können. Oft trage ich ein interessantes Buch bei mir, daß jeden zeitlichen Maßstab zu meinen Gunsten zu verbeigen weiß, oder einen Stift und einen leeren Zettel, die kreative Gedanken und Bilder aus meinem Geiste locken und während der Niederschrift jede Wartezeit zu überbrücken wissen, ohne daß diese beginnt, sich unangenehm anzufühlen.
Es gibt jedoch einen Zustand des Wartens, den ich verachte, der mir jeden Nerv raubt, der meine Geduld für nichtig erklärt und behauptet ich wäre das zappeligste Wesen auf Erden, der mich zittern, planlos umherirren läßt, der mich niederringt und jegliches Lächeln aus meinen Mundwinkeln saugt.
Es ist das Kurzdistanzwarten.
Früher, wenn ich mich mit M verabredete, einigten wir uns stets auf einen ungefähren Zeitraum.
„Wann kommst du?“
„Zwischen drei und vier.“
„In Ordnung.“
Jedoch mag ich es nicht, genau wissend, daß ich um eine bestimmte Uhrzeit an einem bestimmten Platz zu sein habe, wenn ich dort stehe und niemand außer mir eintrifft, minutenlang, wenn ich mich extra beeilte, vielleicht sogar Wichtiges vernachlässigte, um dem Termin gerecht zu werden – und nun vergebens anwesend zu sein scheine.
Ich mag es nicht, gesagt zu bekommen, es ginge in wenigen Augenblicken los, um dann festzustellen, daß die Augenblicke sich dehnen, hinziehen, zu Minuten, vielleicht sogar zu Stunden, mutieren, daß ich abreisebereit in den Startlöchern lauere und jenes Zeichen ersuche, daß den Start verkündet.
Ich mag es nicht, wenn ich genau weiß, daß es sich nicht mehr lohnt, sich mit diesem oder jenem zu beschäftigen, weil es sowieso gleich klingeln wird, weil sowieso gleich der Zeitpunkt gekommen ist, um von dannen zu fliehen – und dann nichts passiert.
Ich mag es nicht, wenn ich jedwede Beschäftigung für unnötig erachte und dann feststellen muß, daß nicht nur genug Zeit gewesen war, um sich dieses zeittotschlagenden Mittels in genügendem Maße zu bedienen, sondern auch um noch sinnvolle, nutzvolle Dinge ausführen zu können.
Ich mag es nicht, auf einen späteren Zeitpunkt vertröstet zu werden, der so nah in der Zukunft liegt, daß ich gar keine andere Wahl habe, als zu warten – und allmählich jede Geduld schwinden zu sehen.
Ich mag es nicht, ungeduldig zu sein, mag es nicht, mich zappeln, hin- und hertigern zu sehen, mag es nicht, einzelne Minutenanzeigen auf verschiedenen Uhren abzulesen und zu vergleichen.
Ich bin doch eigentlich ein geduldiger Mensch…