Straßenbahnerlebnisse 8

Auf dem Zweierplatz für körperlich Benachteiligte sitzt eine ältere Frau mit blond gefärbtem Haar, wegen des Nieselregens mit einer Plastikhaube bedeckt, die aussieht wie ein Kopftuch.
„Ich denke gerade über die Diskussion in Bayern nach.“, meint M zu mir. „Kopftuchverbot und so.“ Ich grinse.

Die Frau ist bemüht, den Sitzplatz zu wechseln, will vom Fensterplatz zum Gangplatz rücken. Das sind zwar nur wenige Zentimeter nach links, doch strengt sie sich dabei sichtlich an, stützt sich auf ihre Krücken und keucht. Ich überlege, ob ich aufspringen, ihr helfen sollte. Doch dann hat sie es geschafft, sitzt schwer atmend auf dem gewünschten Sitzplatz.

Die Bahn hält, Menschen steigen ein. Unter ihnen auch ein Rentnerehepar. Der Mann benutzt eine Gehilfe, visiert den freien Platz neben der Keuchenden an. Er geht wacklig, wird von seiner Frau dorthin geleitet, läßt sich in den Stuhl fallen.

„Die Frau ist zwar auch benachteiligt, hat aber noch beide Hände.“, meint die Rentnerin zu ihrem Mann. Der sagt nichts, doch die Sitzende antwortet:
„Jaja. Aber richtig zufassen kann ich auch nicht.“
„Aber mein Mann erst recht nicht. Er ist gelähmt.“ Sie lacht: „Hahaha.
Sie nickt zu dem Angesprochenen. „Nicht wahr? Hahaha. Nach einem Schlaganfall. Hahaha. Wir fahren jetzt gerade wieder zur Therapie. Hahaha.“

Sie lacht immer wieder, kurz, stoßweise, als wäre das Erzählte irgendwie amüsant. Nicht nur, daß es so wirkt, als versuche sie, den „Wer hat die schlimmsten Gebrechen?“-Wettbewerb für sich bzw. ihren Mann zu entscheiden, auch, daß sie in das Larifari-Gespräch an reichlich unpassender Stelle ihr Gelächter einfügt, verwundert mich.

Ich steige aus und werde dabei beinahe von einem Auto überrollt.
Hahaha.

Straßenbahnerlebnisse 7

In der Straßenbahn hängt eine Übersichtskarte sämtlicher Linien der Stadt. Leider ist diese etwas ungünstig plaziert, befindet sich nämlich an der Wand direkt hinter dem Fahrer, was bedeutet, daß nur diejenigen, welche die beiden dortigen Sitzplätze benutzen, wirklich genau schauen können, welches Fahrzeug des öffentlichen Personnenhahverkehrs wohin fährt.

Auf dem rechten der beiden Plätze sitzt eine Frau mit ergrautem Haar, scheint sich dort wohl zu fühlen. Denn der Platz links von ihr ist frei, aber durch sie selbst und ihren Körper versperrt. Nichts Ungewöhnliches, soweit.

Allerdings tritt nun eine weitere Dame hinzu, ebenfalls bereits ein wenig betagt. Sie sucht nach Informationen, hat extra vorher die Lesebrille aufgesetzt, um nun den Plan genauestens studieren zu können. Da jedoch der eine Sitzplatz von erwähnter Frau besetzt und der Zugang zum anderen von selbiger versperrt ist, muß sich die Informationssuchende über die Sitzende beugen, um den Plan überhaupt erkennen zu können.

Es sieht befremdlich aus, wie sie inmitten der unregelmäßig fahrenden Bahn in äußerst schrägem Winkel den Plan studiert, während der Bahnruckeleien stetig um festen Halt bemüht, mit dem Zeigefinger den Verlauf ihrer gewünschten Linie nachfahrend.
‚Gleich kippt sie um.‘, denke ich, doch nichts passiert.

Tatsächlich passiert nicht; denn der Sitzenden scheint der Gedanke fremd zu sein, wenige Zentimeter nach links zu rücken, um nicht nur der Gefährlich-Schief-Stehenden die Informationssuche zu erleichtern, sondern auch, um den freien Platz freizugeben.

Nach einer Weile ist es vorbei, die absonderliche Haltung ausgestanden. Die Fahrplanstudierende richtet sich auf und nimmt an anderer Stelle Platz, packte die Lesebrille ein. Die bereits Sitzende dagegen verzieht keine Miene.

Der morgendliche Wurm im Ohr 24

Das Erwachen erfolgte nicht ganz freiwillig, wurde gefördert von den Geräuschen im Haus tätiger Bauarbeiter, die ihre gigantisch große Bohrmaschine in aller Ausführlichkeit am Mauerwerk austesteten. Nicht nur der Lärm setzte meinem Schlafbedürfnis zu, sondern auch die Frage, ob die Wände, in die gerade im Abstand von etwa 20 Zentimetern unzählige Lächer gebohrt wurden, in Wirklichkeit tragend waren und das Gebäude allmählich einstürzen würde, je länger die fleißigen Handwerker daran herumbastelten.

‚Wie spät ist es eigentlich?‘, fragte ich mich und schloß das Fenster. Ein Blick auf mein Telefon bestätigte mir, daß ich noch exakt vierzehn Minuten Zeit hätte, um in Seelenruhe auszuschlafen. Mist. Daraus würde wohl nichts mehr werden. Trotzdem barg ich meinen Schädel noch einmal in den Kissen, entspannte noch ein paar Minuten, bevor ich endgültig aufstand.

Der Wecker, der sich in meinem Mobiltelefon befand, mußte jeden Augenblick klingeln. Wo war nur das Telefon? Ich suchte, fand aber nicht. An einem Tag wie diesen das Handy nicht zu finden, war irgendwie albern.

Ich war mir sicher, daß das Gerät irgendwo in der Nähe meines Schlafbereichs zu finden sein müßte, hatte ich es doch am gestrigen Abend dorthin geworfen. Doch erinnerte ich mich wirklich an diesen Wurf, oder war das Bild in meinem Kopf nur der Wunsch, gepaart mit der Erinnerung an die Tage davor? Ich wußte es nicht, suchte weiter.

Zweifach hatte ich nun bereits die gesamte Schlafumgebung durchwühlt und immer noch nichts gefunden. Der Wecker, der mich dezent auf den Fundort hinweisen hätte können, verweigerte sich mir wohl auch. Ungut.

Ich zog mich langsam an, ging im Geiste noch einmal alle Orte durch, an dem sich das Mobiltelefon aufhalten konnte, wühlte und kramte, doch fand nichts. Die Situation war so befremdlich, daß sie mich schon wieder amüsierte. Ich suchte inensiver, selbst an Stellen, die man so gut einsehen konnte, daß ein Blick genügte, um sie überschauen zu können.

Dann fiel es mir ein. Der Sessel! Ich hatte am Abend ein oder zwei Kleidungsstücke vom Bett entfernt und auf den Sessel gelegt. Vielleicht war ja das Handy versehentlich dabei gewesen. Ich sprang auf, eilte zum Sesel, durchstöberte kurz die wenigen, dort liegenden Kleidungsstücke, wurde nicht fündig. Mist.

Doch ein zweiter Gedanke schoß mir durch den Kopf. Der Kleiderschrank! Und tatsächlich: Kaum hatte ich angefangen, im Kleiderschrank zu kramen, rutschte das Handy mir aus einem Haufen Socken entgegen.

‚Ich bin toll!‘, stellte ich fest.
Wie war das Telefon aber in den Kleiderschrank gekommen?
Welch aufregendes Mysterium!

Nebenbei begleitete mich die ganze Zeit der heutige Wurm im Ohr. Es handelte sich um Lacrimosa mit „Lichtgestalt“.
Ich weiß nicht, wann ich das Lied zuletzt hörte – das dürfte einige Tage zurückliegen -, doch freute ich mich heute über dessen Klang in meinem Gehörgang.

„Lichtgestalt – in deren Schatten ich mich drehe…“