Der fremden Schönheit

Was sagt man, wenn die Schönheit jeden Atem raubt, Momente der Zeit entreißt, Augenblicke nur dir, nur deinem Anmut gelten läßt?

Warum sollte ich nicht verstummen im Angesicht deiner Schönheit? Wie sollte ich nicht das Schweigen suchen, um deine erhabene Stille nicht zu verletzen? Wie sollte ich nicht mich lächelnd laben an dem, was mein Auge, was deine Gestalt mir schenkt?

Vielleicht bist du alles, mein Leben, mein Dasein, meine Zukunft, mein Weg. Vielleicht bist du meine Zärtlichkeit, Quell meiner Liebe, Ziel meiner Küsse. Vielleicht bist du alles.

Mein Schweigen erglimmt zum Lächeln. Kein Wort könnte dich halten. Ich wage es nicht, berühre nicht die gläserne Zerbrechlichkeit deiner zarten Schönheit mit meinen rauhen Stimme, beschmutze nicht deinen Zauber mit meiner Wörter Klang. verletze nicht deine Nähe durch die meine, verletze dich nicht, verletze mich nicht…

… bis du fortgehst und ich dich nicht zu halten vermag …

Menschen 14

Ich erkannte ihn schon von weitem. Er stand an der selben Ecke wie damals, schaute mich mit dem selben flehentlichen Blick an.

Sein Mund formte Worte. Er war unrasiert; sein Haar trotz Pomade würst. In der Hand hielt er einen Zettel, ein karierter Fetzen, auf dem in großer Handschrift Zahlen geschrieben standen. ‚Zwei Telefonnummern.‘, vermutete ich.

Ich hörte ihn nicht, als er mich ansprach. Die Musik aus meinen Kopfhörern übertönte seine Worte. Ich hielt inne, und er wartete stumm, bis ich die Kopfhörer aus den Ohren gezogen hatte.
Dann fragte er nochmal:
„Do you speak English?“

Ich seufzte innerlich, verdrehte insgeheim die Augen. Er erkannte mich nicht.
„Yes.“, antwortete ich kurz und knapp und wußte, was kommen würde.

„You have a telephone?“
„No. Sorry.“, log ich.
Ich fragte mich, wie oft der Mann an dieser Straßenecke stand und Menschen um die Möglichkeit zu telefonieren anbettelte. Ich fragte mich, ob das seine Masche war, um an Geld zu kommen, ob er absichtlich falsche Nummern wählte, um dann etwas Telefonierkleingeld zu erbetteln. Ich fragte mich, ob der Zettel in seiner Hand nicht nur Alibi war, nur ein Teil seiner Lüge.

Ich hatte nicht damit gerechnet, daß er nicht aufgeben würde.
„You have … ?“
Ihm fehlten die Worte, doch seine Geste war eindeutig. Er wünschte Kleingeld. Für das nächste Münztelefon oder so. Ich seufzte ein zweites Mal innerlich.
Natürlich hatte ich Kleingeld. Zu einer weiteren Lüge war ich nicht imstande.

Es war heiß. Mein Rucksack war schwer, und ich hatte den gesamten Weg vom Bahnhof laufen müssen. Der Henkel des Beutels in meiner rechten Hand war unter seiner Last gerissen, das Tragen eine Qual. Auch das Einrad in meiner linken Hand wurde allmählich schwer; und ich sehnte mich einzig und allein danach, nach Hause zu kommen, alle Lasten abzuwerfen und etwas Kühles zu trinken.

Trotzdem gab ich nach, legte meine Sachen auf die Straße, kramte in meinem Rucksack nach dem Portemonaie.
„How much do you want?“, fragte ich, „50 Cent?“
„One.“, war die Antwort. Ein Euro.

Ein mögliches „Nein.“ war längts in der Hitze der Nachmittagssonne geschmolzen. Matt überreichte ich ihm den Euro.
‚Ein Telefonat wäre billiger gewesen.‘, dachte ich, doch glaubte mir nicht. Er hätte sowieso wieder niemanden erreicht, mich danach um Kleingeld gebeten.

Der Mann bedankte sich, freundlich, lächelnd, und ging, winkte, als er noch einmal zurücksah. Vielleicht suchte er nun tatsächlich ein Münztelefon, wählte die Numemrn auf seinem Zettel. Ich beschloß, das zu glauben, beschloß zu glauben, daß er die Wahrheit gesagt hatte, setzte meinen Rucksack wieder auf, ergriff den kaputten Beutel, das Einrad und schleppte mich mühsam nach Hause.

‚Warum nur‘, fragte ich mich, ‚bin ich immer wieder das Ziel Freundlichkeit und Kleingeld erflehender Menschen? Wirke ich wohlhabend? Oder gar vertrauenswürdig?“
Innerlich lächelnd schüttelte ich mit dem Kopf.
‚Nein. Bestimmt nicht.‘

Das Perfekte System

Wäre eine Regierung, eine staatliche Oberheit, perfekt, makellos, bräuchte man keine Regierenden.

Der Gedanke, der hinter diesem Satz steckt, ist folgender: Politiker haben es sich vorwiegend zur Aufgabe gemacht, das Leben der Bürger zu verbessern, dabei aber auch die Belange des Staates zu vertreten. Dazu werden täglich Vorschläge erbracht, Ideen durchdacht, Entscheidungen gefällt.

Doch sind die Regierenden letztendlich nicht diejenigen, die die gefällte Entscheidung in die Tat umsetzen. Dafür sorgen Verwaltungsapparate. Was macht also die Obrigkeit? Entscheiden. Gegenwarts- und Zukunftssituationen durchdenken und versuchen, mit Regeln und Beschlüssen in die richtige Richtung zu lenken.

Dagegen ist nichts auszusetzen.

Aber es werden ständig neue Regeln aufgestellt, alte Gesetze abgeändert, verbessert, Ideen verworfen oder optimiert usw. Die Regeln, nach denen zu leben, zu handeln, ist, stellen nur eine Art schwammige Masse dar, deren Formen sich stetig ändern.

Im allgemeinen ist Veränderung gut. In diesem Fall jedoch nur bedingt. Denn Veränderung, der stete Drang, die stete Notwendigkeit zu verändern bedeutet hier vor allem eins: Die Gesetzgebung, die Regeln, die unser Dasein bestimmen, sind äußerst unzureichend. Sie sind bei weitem nicht perfekt, bei weitem nicht optimal, vielleicht noch nicht einmal gut.

Ständig muß korrigiert, Altes ausgemerzt, Neues beachtet werden. Ständig zeigt die Entwicklung des Staates, daß Gedanken in der Vergangenheit falsch waren oder in falsche Richtungen führten. Dieser Umstand bewirkt Diskussionen, Streit, zwischen Betroffenen und Verantwortlichen, zwischen Beharrern und Verbesserern.

Wäre das System perfekt, bedürfte es keiner Veränderung. Ein festes Regelwerk, das unabänderlich über der Bevölkerung schwebte und jede Eventualität berücksichtigte.

Wäre das System perfekt, bedürfte es nur einer einzigen Variablen, einer einzigen veränderlichen Größe: die menschliche Entwicklung.
Mit der Entwicklung des Menschen verändern sich dessen Denken, dessen Handlungsweise, dessen Bedürfnisse. Dieser Umstand muß natürlich berücksichtigt werden, muß Einfluß auf die Gesetze und Regeln haben.

Doch ansonsten wäre für die Regierenden nichts zu tun, nichts. Das Regelwerk in seiner Perfektion bräuchte keine steten Diskussionen und Verbesserungen, keine Korrekturen und Ausmerzungen. Nur dem Fortschritt müßte es angepaßt werden, nur der menschlichen Entwicklung.

Das zeigt also deutlich, wie weit das derzeitige System von der Perfektion entfernt ist, wie sehr es nötig ist, Fehler zu beseitigen und zu korrigieren, Löcher zu stopfen, die ihrerseits Löcher schaffen, die gestopft werden müssen.

Eine Regierung wäre im Perfekten System wohl nahezu überflüssig. Doch dieses ist selbstverständlich unerreichbar. Aber allein der Gedanke an ein solches zeigt, wie unvollkommen unsere Staatsform, unsere Gesetzgebung, unsere Regierung in Wirklichkeit ist, die wir zuweilen für vollkommen zu halten wünschen. Es zeigt auf, daß wir tagtäglich in einem System leben, daß aus einem Stückwerk von Fehlern besteht, die fortwährend korrigiert werden müssen.

Der wohl deutlichste Gegensatz zu diesem unförmigen Flickenteppich ist die Bibel – ein Buch, das über Jahrtausende Bestand hatte, das ab einem bestimmten Punkt nicht mehr verändert, verbessert wurde, ein Buch, das angeblich die Regeln des Lebens enthält, das nicht dem Fortschritt angepaßt wird, nicht mit der menschlichen Entwicklung Schritt zu halten versucht, nicht fortwährend in sich selbst Fehler aufdeckt, die korrigiert werden müssen.

Die Bibel könnte ein Beispiel für das Perfekte System sein – wäre sie perfekt. Doch das ist sie nicht, allein schon, weil sie von Menschen geschrieben wurden, denen man die Perfektion ohnehin absprechen kann. Die Bibel enthält mehr Fragen als Antworten.

Und doch wird sie von der christlichen Kirche als unfehlbares Werk Gottes, als Richtungsweiser, als Ratgeber benutzt, empfohlen. Alle Antworten seien darin verborgen.

Und so finden sich Theologen und Bibelforscher, die Fragen auf den Grund zu gehen versuchen, die Antworten „zwsichen den Zeilen“ suchen, als gäbe es sie, als könnte das Jahrtausende alte Werk auch über alle Fragen der Moderne Auskunft geben.

Das kann es nicht.

Und doch steht dieses feste, starre Regelwerk im Gegensatz zu jeder Regierungsform, die sich immer neuen Formen fügt.

Beide sind unzureichend, ohne Perfektion. Wir leben irgendwo dazwischen und versuchen, mit dem klarzukommen, was gerade ist, suchen Halt an Werten und Glauben, an der vermeintlichen Sicherheit in der Starre, in der Formlosigkeit, vergessen, daß nicht jede Antwort bereits gegeben ist, daß nicht jede Antwort vom „System“ erfolgen kann…