Menschen 20: Sitzkissenersatz

Und dann war da noch die alte Frau, die auf der Bierkastenreihe vor mir saß, die, Bequemlichkeit suchend, ein Buch zwischen das harte Plastik und ihren breiten, in schwarzen Stoff gehüllten Hintern geklemmt hatte und vergnügt der Lesung lauschte, der auch ich Aufmerksamkeit schenken wollte, wäre da nicht das Buch unter ihrem Hintern gewesen, das mich immer wieder ablenkte, meine Blicke auf sich zog.

Warum mußte sie auch ausgerechnet Mirjam Münteferings Lesbenroman „Das Gegenteil von Schokolade“ auswählen…?

[Im Hintergrund: Depeche Mode – „Playing The Angel“]

Straßenbahnerlebnisse 12: Nicht ein einziges

Ich platziere mich rechts, am Fenster, ein Einzelplatz unweit der Tür. Ich liebe es, hier zu sitzen, aus dem Fenster zu starren und die vorbeigleitende Welt zu beobachten. Nicht minder liebe ich es, hier zu sitzen und meine Gedanken zwischen fesselnden Zeilen zu vergraben, hin und wieder aufzusehen und zu befürchten, die Aussteigehaltestelle zu verpassen.

Das Rumpeln der Straßenbahn gefällt mir, ihr schwerfälliges Anfahren, die beängstigenden Geräusche in den Kurven, welche die Frage nach der Sicherheit der Fahrzeuge öffentlichen Personennahverkehrs mit stetiger Aktualität belegen, die Ziehharmonikatüren und der grüne Knopf an der metallenen Außenseite.

Meine Straßenbahn ist fast immer eine alte; ein klobiges Ungetüm, ein ratterndes Monster, das Fahrgäste verschlingt und ausspeit wie schlechte Nahrung. Ich freue mich darüber, mißfallen mir doch die schrillen Tür-Schließ-Warntöne der neueren Bahnen, die schwarz-drohenden Kameraaugen an der Decke, die an der Glastür angebrachten Ein- und Aussteigeknöpfe, deren fehlende Versenkbarkeit immer wieder Unsicherheit aufkommen läßt, ob man sie nun ausreichend intensiv gedrückt habe oder nicht.

Heute sitze ich in einer neuen Bahn. Das Fenster neben mir ist glaskratzerfrei und erlaubt mir einen Blick auf das sonnige Äußere, auf die vorbeischwebenden Menschen und Fahrzeuge. Für einen Augenblick ersehne ich mir ein Buch auf meinen Schoß, doch dann entsinne ich mich der letzten beiden Tagen, in denen ich mich mit nahezu nichts anderem als mit der Lektüre zweier angenehmer Bücher beschäftigt hatte, deren Geschichtenfetzen mir noch immer durch den Kopf wirbeln und das Gefühl hinterlassen, vorläufig lesegesättigt zu sein und alle Eindrücke und Gedanken erst einmal verarbeiten zu müssen.

Links von mir, auf der anderen Seite des schmalen Ganges, befindet sich ein Vierersitz, erstaunlicherweise nicht von einer Omi und zwei Taschen, sondern tatsächlich von vier Personen besetzt, deren geschätztes Alter ich in den Sechziger-Bereich einordnen würde, sollte mich jemand danach fragen.

Die Vier unterhalten sich. Eine Frau bemängelt die Straßenbahnunpünktlichkeit und die daraus entstehenden Umsteigeprobleme, die ein wiederholtes Zuspätkommen verursachten und auch nicht durch das Nutzen einer früheren Bahn ausgeglichen werden können, da die bisher genutzte die erste am Morgen darstellt [Die schreckliche Vorstellung nachts um Fünf zur Arbeit fahren zu müssen, lasse ich nicht in meine Gedanken eindringen.]. Das Gespräch schweift ab, ich lausche dem unangenehmen Fiepgeräusch, das mit jedem Brems- und Anfahrvorgang entsteht, lenke all meine Sinne in Richtung des Magdeburger Außen, das allein durch die stete Eigenbewegung der Bahn interessant zu sein scheint.
‚Bewegte Bilder fesseln.‘, überlege ich, ‚Egal, wie sinnentleert sie sind.‘

„Sie können es ruhig glauben.“, vernehme ich links von mir. Die andere Frau auf dem Viererplatz hat das Wort ergriffen. Ich sehe nicht viel von ihr; nur ihr strohblond gefärbtes Haar lugt hinter dem fetten Gesicht ihres Nebenmannes hervor.
Doch ihre Stimme ist gut hörbar – sicherlich auch für den Rest der Straßenbahninsassen – und berichtet Nachdenkenswertes.

„Glauben Sie mir,“, wiederholt sie, „ich habe noch nie in meinem Leben ein einziges Buch gelesen.“
Am liebsten wäre ich an dieser Stelle verblüfft verstummt, doch schwieg ich bereits. Im Kopf wimmeln Assoziationen zu den beiden Büchern der vergangenen Tage herum, und ich frage mich kurz und ohne wirkliches Interesse, wieviele Bücher ich in meinem Leben bereits las, ja, wieviele ich davon doppelt genoß.

„Ich habe es probiert, wissen Sie. In der Schule mußten wir ja lesen, doch konnte mich immer drücken.“
„Sie liest ja.“, weiß ihr Mann mit dem Fettgesicht zu ergänzen. „Aber eben keine Bücher.“
„Das glauben Sie nicht, oder? Nicht ein einziges Buch habe ich bisher gelesen. Einmal wünschte ich es mir, hier, dieses Buch von dem Süß… Südmann, «Das Parfüm», Sie wissen schon, dieser Süskind oder wie der heißt, das habe ich mir wirklich gewünscht. Ich habe es wirklich probiert, ich wollte es ja lesen. Doch ich habe es angefangen und dann weggelegt, auf meinen Nachttisch, da lag es dann wochenlang, ohne daß ich es anrührte.
Nicht ein einziges Buch habe ich bisher gelesen.“

Ihre Begleiter schweigen, und ich frage mich, ob ich ihr nicht ein gutes, leichtes Buch empfehlen sollte, etwas, das fesselnd und anspruchslos zugleich ist. Karl Mays „Winnetou“ fällt mir ein, Gerd Prokops „Detektiv Pinky“ und noch ein paar andere Werke, die ich als Kind verschlungen hatte. Ich beschließe zu schweigen und recke meine Lauscher noch einmal in Richtung der Leseunwilligen.

„Nicht ein einziges Buch.“, wiederholt sie gerade. Ungläubig wende ich mich ab und starre abwesend auf die bewegten Bilder hinter der Scheibe.

[Im Hintergrund: EverEve – „The more she knows“]

FFFfF: Schwafel

Bevor ich anfange, ein kleines Loblied auf Corel und seine Existenz auf meinem Rechner zu säuseln, freue ich mich über die 23 [natürlich!] Blätter, die ich soeben ausdruckte und die allesamt mit vorgefertigten Panels [=Kästchen] bedruckt sind, in die ich in naher Zukunft die nächsten Comics zeichnen werde. In den letzten Tagen mußte ich diese selber konstruieren, was mir durchaus mißfiel.

Heute ertappte ich mich dabei, wie ich mir selbst sagte, ich müsse noch den morgigen Fred-Comic zeichnen. Dabei muß ich nicht. Ich will. Das wird mir jedesmal wieder klar, wenn ich einen Comic beendet habe und voller Stolz den Scanner damit füttere:
Ich mag Frederick, die alberne, zuweilen etwas begriffsstutzige Fledermaus.
Ich mag den noch namenlosen Käfer, der so schlau tut und sich gerne reden hört.
Und ich mag natürlich den Wurm, der – man hat es sicher bereits bemerkt – einer der größen Batman-Fans ist, die ich kenne.

Halte ich also nach nach vielen Minuten des Zeichnens, des Falsche-Linien-Bedauerns, des Winzige-Fehler-Durch-Improvisation-Beseitigens, des Sich-Über-Funktionsverweigernde-Stifte-Ärgerns, … den neuen Fred-Comicstrip in meinen Händen, unterzeichne ich ihn mit meinem Namen und dem zugehörigen Datum, schenke ich ihm spontan einen wenig aussagekräftigen Titel, dann weiß ich, warum ich das tue, warum ich mehrere Stunden täglich damit zubringe, ein weißes Blatt mit schwarzen Linien und Flächen zu befüllen, warum ich morgens unter der Dusche an nahezu nichts anderes denke als an mögliche Abenteuer einer Schwarz-Weiß-Fledermaus…

Egal.

Nr. 25: „Schwafel“


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[Im Hintergrund: The Cure – „Bloodflowers“]