An der Straßenbahnhaltestelle begegnen sich zwei Menschen. Nichts Ungewöhnliches soweit, doch es ist offensichtlich, daß der einen Hälfte der an dieser Begegnung Beteiligten selbige unangenehm ist.
Sie kennen sich, vermute ich, doch nicht gut, gerade gut genug, um über ein Thema reden zu können. Handball. SCM. Bundesliga. Heimspiele. Champions-League.
Person A, er sieht aus wie ein Günther [„Mit T-H, bitte.“], trägt eine Brille, die in intelligenter wirken läßt als seine Worte klingen. Er lispelt ein wenig, und seine Kleidung erweckt den Eindruck, daß sie den Körper bedecken, nicht irgendwie aussehen muß. Die braune Cordhose soll mit ihren unzähligen Taschen vielleicht modern sein, deformiert aber Günthers Körper noch mehr als seine graue, stillose Jacke.
Person B, ein forscher Kerl, ich nenne ihn Ralf, freut sich sichtlich über die Begegnung. Seine Stimme ist laut und biergestählt. Die hochgewachsene Gestalt kompensiert die Rettungsringe, die sich unter einer Jeansjacke verstecken. Jeans scheint sowieso das zu sein, was Ralf am liebsten trägt, und betrachtet man seine sportliche Erscheinung, so könnte man meinen, daß das zu ihm paßt.
Ralf ist selbstsicher, er lacht grob, begrüßt den fast eingeschüchterten, mit leiser, sprachfehlergequälten Stimme antwortenden Günther überschwenglich, legt gleich los mit dem Gespräch, dessen Thematik minutenlang in demselben, einseitigen Brei herumdümpelt.
Ralf ist ein begeisterter SCM-Fan, ist mit seinen Kumpels bei jedem Spiel dabei, trinkt dabei gern die Menge Bier, die es braucht, um lauthals seine Meinung in der vollbesetzten Sporthalle kundgeben zu können, wenn der Scheiß-Schiri mal wieder Mist baut.
Günther ist eher der rationale Typ. Er ist zu alt, um sich noch zu ändern, steckt fest in seinem langweiligen Beruf, in seinem sich wiederholenden Tagwerk, das er nun gerade beendet hat, als er Ralf begegnet – ünrigens zum ersten Mal seit langer Zeit, denn außer Handballfreuden teilen die beiden nichts.
Vermutlich wirken bei ihm zwei Bier Wunder, dann läßt er sich gehen, schließt sich Leuten wie Ralf an, brüllt seine Ansichten umher und darf mal kurz alle Bedenken beiseite werfen. Er mag Ralf nicht sonderlich, doch er mag Handball, und er mag es, sich mit Ralfs Kumpanen zu einer Gruppe zugehörig, stark fühlen zu können.
Und weil er in der Halle hin und wieder die Sau rauslassen, sich selbst vergessen, kann, hat er sich eine Jahreskarte besorgt. Denn wie alle gebeutelten Deutschen muß er sparen und hat flink errechnet, daß er, wenn er für jedes Spiel einzeln löhnt, wesentlich mehr zu bezahlen hat als mit einer Jahreskarte.
Günther ist stolz auf seine schlauen Überlegungen, stolz auf seine Jahreskarte, und kann dadurch etwas berichten, das Ralf, der immer alles zu wissen glaubt, noch nicht weiß. Ralf schaut verdutzt und fragt nach dem Preis einer solchen Jahreskarte.
Der stolze Günther, dem Zahlen eigentlich sehr lieb sind, freut sich, die Antwort geben zu können, nennt irgendeine krumme Zahl, die Ralf schnell wieder vergißt. Zu hoch, zu viel Geld, das auf einmal ausgegeben werden müßte.
„Hast du eigentlich ’nen Spielplan?“, fragt Ralf, der sich um solche Sachen erst kümmert, wenn sie ihm einfallen. Günther dagegen ist bestens vorbereitet auf die neue Saison, nickt stolz.
„Kannste mir einen mitbringen?“, fragt Ralf, der nicht einmal daran denkt, daß es außer Günther sicherlich leichtere Wege gibt, einen Spielplan für seinen Lieblingshandballverein aufzutreiben.
„Nee.“, antwortet Günther leise, „Ich hab nur einen.“
„Machste mir ne Ablichtung?“, fragt Ralf, und es klingt fast wie ein Befehl.
[An dieser Stelle stutze ich. Das Wort „Ablichtung“ als Synonym für „Kopie“ begegnete mir noch nicht häufig.]
Günther nickt, doch ist verwirrt. Er weiß nicht, wohin er die Kopie schicken soll, will aber sein Unwissen nicht zugeben. Er kennt Ralf doch schon so lange, allerdings ohne zu wissen, wo er wohnt oder wie er heißt.
Doch Ralf hilft ihm aus der Patsche:
„Bringste mir dann mit, die Ablichtung, ja? Beim nächsten Spiel. Wir sehen uns ja dann.“
Erleichtert nickt Günther erneut. Kein Ort, keine Uhrzeit ist ausgemacht. Die Bördelandhalle faßt 8.000 Zuschauer, aber Günther weiß, wo er Ralf finden wird. An der Bar, rechts vom Eingang, wie immer. Zusammen mit seinen Kumpels.
Eine Straßenbahn nähert sich.
„Das ist meine.“, sagt Günther und deutet auf die Bahn. Ralf nickt, muß in die andere Richtung.
„Wir sehen uns ja dann.“, verabschiedet er sich und überquert die Gleise.
Als die Bahn hält, steigt Günther ein, ein wenig zu hastig. Das Gefährt schließt die Türen, bewegt sich, fort von Ralf, der zu laut, zu fröhlich, nüchtern kaum erträglich ist, der alles besser zu wissen glaubt, aber doch nicht recht hat.
Hinter der Straßenbahn wird Ralf kleiner und kleiner, verliert seine Bedeutung. Günther schiebt seine Brille hoch, doch blickt nicht zurück.
Als die Bahn an der nächsten Haltestelle stoppt, steigt er aus und gesellt sich zu einer gesichtslosen Gruppe schweigend Wartender.
[Im Hintergrund: Ensiferum – „Ensiferum“]