Menschen 10

Eine Rentnerin auf einem Fahrrad, mit dem üblichen Fahrradkorb hinter sich, die sich eine Steigung hinaufquält und dabei vor Anstrengung das Gesicht verzieht, ihre schiefen Zähne zeigt. Als ich vorbeifahre, wird sie sich ihrer Grimasse bewußt und versteckt ihre entblößten Zähne wieder, normalisiert ihr Gesicht und schaut mich unschuldig an.

Der Fahrradweg ist schmal. Mir kommt eine junge Frau entgegen, auf der falschen Straßenseite fahrend. Das stört mich nicht weiter; ich halte mich so weit wie möglich rechts. Die junge Frau jedoch hat genau denselben Teil des Fahrradweges für sich erachtet. Im letzten Augenblick mache ich einen Schlenker und weiche ihr aus, verwundert darüber, daß sie nicht nur auf der [von ihr aus gesehen] linken Straßenseite fuhr, sondern sich auch noch auf dem Weg [von ihr aus gesehen] links orientierte.
Dann wird mir bewußt, daß das Rechts-Fahr-Gebot nur eine von unzähligen Regeln darstellt, die mir von kleinauf eingetrichtert wurden, daß ich vollgestopft bin mit Vorschriften, die jeder für normal erachtet, deren Beachtung aber nicht immer zwingend notwenig ist.
Heimlich lächle ich über die – vermutlich unbewußte – Anarchistin.

Auf der neugebauten Sternbrücke schlendern zwei Mittvierziger entlang, beide mit Bierbauch und Schnaubart verziert. Einer von ihnen bleibt stehen, mustert die blauen Stahlträger der Brücke argwöhnisch, klopft prüfend darauf und murmelt:
„Was das alles wieder gekostet hat…“

2 Gedanken zu „Menschen 10“

  1. Regeln und, noch schlimmer, Gesetzte sind nur so lange real und gültig, solange sich jemand daran hält und auch jemand da ist, der sie durchsetzen kann (ach, das erinnert mich an gar mühsame Diskussionen…). Einige davon mal kritisch zu betrachten und sich bewusst zu werden, dass wir sie nur deswegen für wichtig und selbstverständlich erachten, weil sie uns immer so präsentiert wurden, mag sicher klug sein.
    Die Leute, die ständig gegen alles und jedes aufbegehren sind mir allerdings noch suspekter (und nerven mich noch mehr) mehr als die, die es nie tun. Manche Regeln sind nämlich nicht böse, nur weil es Regeln sind. Diejenigen zum Beispiel, die verhindern, dass mich jemand auf der falschen (bzw der „nicht den in diesem Lande gültigen Regeln entsprechenden“) Straßenseite über den Haufen fährt.

    Das ist selbstverständlich nur allgemeines Blabla, keinesfalls Kritk, aber wahrscheinlich komme sowieso auch nur ich auf die Idee, dass man das als solche auffassen könnte.

  2. REPLY:
    Ja, tatsächlich habe ich es nicht als Kritik aufgefaßt. Regeln sind ja nicht prinzipiell aufgestellt worden, sondern haben sich teilweise auch ergeben, weil es das menschliche Miteinander erleichtert, bei bestimmten Dinge automatisch in bestimmter Weise zu agieren. Das jedoch blind zu tun halte ich – ebenso wie du – genauso falsch wie alles für falsch zu erklären, bloß weil man selbst nicht der Festlegende war. Der ominöse goldene Mitttelweg scheint mal wieder der Richtige zu sein. Doch in der Mitte zu fahren ist auch nicht immer ungefährlich…

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