Ich erkannte ihn schon von weitem. Er stand an der selben Ecke wie damals, schaute mich mit dem selben flehentlichen Blick an.
Sein Mund formte Worte. Er war unrasiert; sein Haar trotz Pomade würst. In der Hand hielt er einen Zettel, ein karierter Fetzen, auf dem in großer Handschrift Zahlen geschrieben standen. ‚Zwei Telefonnummern.‘, vermutete ich.
Ich hörte ihn nicht, als er mich ansprach. Die Musik aus meinen Kopfhörern übertönte seine Worte. Ich hielt inne, und er wartete stumm, bis ich die Kopfhörer aus den Ohren gezogen hatte.
Dann fragte er nochmal:
„Do you speak English?“
Ich seufzte innerlich, verdrehte insgeheim die Augen. Er erkannte mich nicht.
„Yes.“, antwortete ich kurz und knapp und wußte, was kommen würde.
„You have a telephone?“
„No. Sorry.“, log ich.
Ich fragte mich, wie oft der Mann an dieser Straßenecke stand und Menschen um die Möglichkeit zu telefonieren anbettelte. Ich fragte mich, ob das seine Masche war, um an Geld zu kommen, ob er absichtlich falsche Nummern wählte, um dann etwas Telefonierkleingeld zu erbetteln. Ich fragte mich, ob der Zettel in seiner Hand nicht nur Alibi war, nur ein Teil seiner Lüge.
Ich hatte nicht damit gerechnet, daß er nicht aufgeben würde.
„You have … ?“
Ihm fehlten die Worte, doch seine Geste war eindeutig. Er wünschte Kleingeld. Für das nächste Münztelefon oder so. Ich seufzte ein zweites Mal innerlich.
Natürlich hatte ich Kleingeld. Zu einer weiteren Lüge war ich nicht imstande.
Es war heiß. Mein Rucksack war schwer, und ich hatte den gesamten Weg vom Bahnhof laufen müssen. Der Henkel des Beutels in meiner rechten Hand war unter seiner Last gerissen, das Tragen eine Qual. Auch das Einrad in meiner linken Hand wurde allmählich schwer; und ich sehnte mich einzig und allein danach, nach Hause zu kommen, alle Lasten abzuwerfen und etwas Kühles zu trinken.
Trotzdem gab ich nach, legte meine Sachen auf die Straße, kramte in meinem Rucksack nach dem Portemonaie.
„How much do you want?“, fragte ich, „50 Cent?“
„One.“, war die Antwort. Ein Euro.
Ein mögliches „Nein.“ war längts in der Hitze der Nachmittagssonne geschmolzen. Matt überreichte ich ihm den Euro.
‚Ein Telefonat wäre billiger gewesen.‘, dachte ich, doch glaubte mir nicht. Er hätte sowieso wieder niemanden erreicht, mich danach um Kleingeld gebeten.
Der Mann bedankte sich, freundlich, lächelnd, und ging, winkte, als er noch einmal zurücksah. Vielleicht suchte er nun tatsächlich ein Münztelefon, wählte die Numemrn auf seinem Zettel. Ich beschloß, das zu glauben, beschloß zu glauben, daß er die Wahrheit gesagt hatte, setzte meinen Rucksack wieder auf, ergriff den kaputten Beutel, das Einrad und schleppte mich mühsam nach Hause.
‚Warum nur‘, fragte ich mich, ‚bin ich immer wieder das Ziel Freundlichkeit und Kleingeld erflehender Menschen? Wirke ich wohlhabend? Oder gar vertrauenswürdig?“
Innerlich lächelnd schüttelte ich mit dem Kopf.
‚Nein. Bestimmt nicht.‘
REPLY:
Nein, ich will das nicht wirklich. Schließlich bin ich viel zu neigierig und zu sehr interessiert an allem, was um mich herum passiert. Eben gerade erlebte ich das beste beispiel. in der Bibliothek kommt mir eine ältere Dame entgegen. Ich erkenne sie als – sonst eigentlich immer unfreundliche – Mitarbeiterin, sehe sie. Sie blickt zurück – und lächelt. Ist es wirklich so einfach, offen, freundlich, zuvorkommend, etc. zu wirken? Vielleicht ja.
Das mit den Münztelefonen entspringt meiner Erinnerung. Aber ich versuche, das nochmal zu verifizieren.
REPLY:
So einfach ist das! Hab dieses Erlebniss schon durch! Dein Blick ist wie ein Kompliment an den Anderen! —> Du interessierst mich…