Heute war ich am Grab.
Wenn es um designtechnische Ansprüche geht, habe ich immer zu meckern. Nun ja, nicht zu meckern. Aber mir fällt immer etwas auf oder ein, das verbessert oder zumindest kritisiert werden könnte. Immer. An mir. An meinen Werken. Und natürlich an denen anderer.
Meine Mutter, mein Bruder und ich hatten den Grabstein zusammen ausgesucht. Sie hatte konkrete Vorstellungen, wir beiden nicht. Und doch waren wir schnell einig geworden, gaben meiner Mutter recht, widerprachen ihr, fanden bald eine Steinsorte, eine Steinform, die uns alle befriedigte [insoweit Grabstein Befriedigung verschaffen können].
Die Inschrift sollte kurz gehalten werden. Vorname, Nachname, Geburtsjahr, Bindestrich, Sterbejahr. Meine Mutter wünschte es so. Ich sinnierte darüber, sinnierte über die Angabe des genauen Datums, über die Angabe der zusätzlichen [nie genutzten] Vornamen. Und entschied mich dagegen. Gab meinem Bruder, gab meiner Mutter recht.
Sie wollte Platz lassen. Für sich.
Auf dem Grabstein ihres Mannes sollte Platz gelassen werden für ihren eigenen Tod, den ich mir in weiter Zukunft vorstellte, ja eigentlich nicht vorzustellen vermochte. 50 ist kein Alter.
Na gut, 47 auch nicht.
Ich war dagegen, protestierte, fand es lächerlich und unästhetisch zugleich. Eine leere Hälfte, die auf den Tod meiner Mutter wartete. Das ängstigte mich.
Sie ließ sich überzeugen. Nicht von mir. Aber von den Steinmetzen. Immerhin.
Nur die Schriftart mußte noch ausgewählt werden. Zu diesem Zeitpunkt war ich fern. 100 Kilometer weit weg.
Ich hatte meine Vortsellungen geäußert. Kein sinnloses Geschnörkel, nichts Altmodisches. Meine Mutter gab mir recht. Mein Bruder sowieso.
Heute war ich am Grab.
Die Schriftart sah anders aus als in meinem Kopf. Doch nach zwei, drei Blicken stellte ich fest, daß sie gut aussah, paßte. Zum Stein. Zu meinem Vater.
Vielleicht hätte man Kapitälchen nehmen sollen, dachte ich. Und verwarf den Gedanken. So wie es war, war es gut.
Ich hatte nichts zu meckern. Schwieg. Weinte.
Auf dem Grab standen drei Schalen. In ihnen welkten Blumen vor sich hin. Ein trauriger Anblick. Gehendes Leben über gegangenem.
Ich hatte keine Blume mitgebracht. Wollte keine Vergänglichkeit auf dem Grab niederlegen. Höhnisch wäre ich mir vorgekommen. Falsch. Ich überlegte, ob mein Vater Blumen gewünscht hätte, wußte es nicht.
Alles ist vergänglich, wurde mir bewußt. Warum also keine Blume? Das nächste Mal, versprach ich mir. Tut mir leid, entschuldigte ich mich.
Ich hockte vor dem Stein. Der Weg war zu schmal. Mein Rücken streifte den Grabstein hinter mir. Weitere Tränen warteten in meinen Augenwinkeln.
Ich redete. Redete unsinniges Zeug. Redete mit einem Stein. Weinte.
Bei der Beerdigung hatte ich festgetsellt, daß ich niemals akzeptieren können würde, daß er, sein Leib, in Pulverform ein Metallgefäß füllen würde, irgendwo unter mehreren Lagen Erde. Nicht er, nur irgendetwas, das an ihn erinnern sollte, vielleicht. Nicht er.
Und nun redete ich mit einem Stein. Spürte, wie sehr er mir fehlte. Fand keine Worte. Redete trotzdem. Weinte wieder.
In vielen Momenten ist er mir nah, begegnet er mir. Bilder aus der Vergangeneheit. Ich erfreue mich daran. An jedem einzelnen. An jeder Erinnerung.
Doch hier ist Erinnerung Schmerz, Leere, Ewigkeit. Das Bewußtsein über die fehlenden Schritte zurück. Das Wissen von einer unvollständigen Zukunft.
Liebe, die brennt und kein Echo mehr findet.
Als ich gehe, perlen noch immer Tränen über meine Wangen.