Menschen 11

An einer Straßenecke steht ein Mann, beleibt, die ergrauenden Haare mit Pomade nach hinten gekämmt. Ich halte Abstand, den Kontakt meidend. Er ist keine Gefahr, begreife ich, doch will auch selbst keine darstellen.

Der Mann ruft mich: „Hey!“
Seine Stimme ist kraftlos, nicht fordernd, eher bittend. Ich wende mich ihm zu.
„Do you speak English?“, fragt er mich.
„Yes I do.“ Mittlerweile bin ich bei ihm angelangt.

Er wünscht zu telefonieren, besitzt aber kein Telefon. Ich betrachte ihn, bin bereit, Vertrauen zu schenken, krame nach meinem Handy, entsperre die Tasten, reiche es ihm. Das Handy ist alt und wertlos. Das Guthaben nahezu aufgebraucht. Ich habe keine Angst vor einem Verlust. Keine Angst vor ihm.

Der Mann lächelt nicht, wirkt ratlos. Seine braune Haut wirkt im Dunkel der Nacht noch finsterer. ‚Vielleicht ist er Inder.‘, mutmaße ich.

Mühevoll tippt er die gewünschte Nummer ein, jede einzelne Ziffer in dialektgefärbtem Englisch aufsagend. Als er fertiggetippt hat, zeigt er mir die Telefonnummer, bevor er anruft. Ich winke ab.

Er erreicht niemanden, nur eine Mailbox.
„Wrong Number?“, frage ich.
Er schüttelt mit dem Kopf, probiert es nochmal. Diesmal ist die Nummer länger. Doch wieder erfolglos. Er gibt mir das Handy zurück, wirkt noch trauriger als zuvor, fragt mich nach Kleingeld, damit er es zu späterem Zeitpunkt nochmal probieren kann.

Ich habe kein Portemonaie dabei, versuche, dmich zu erklären, doch weiß nicht, wie ich „Portemonaie“ übersetzen soll. Ich krame wieder in den Taschen meines Rucksacks, finde ein paar Fünf-Cent-Stücke, zeige sie ihm, bedaure, nicht mehr dabei zu haben.
Er zählt, nimmt das Geld.
„It’s enough.“, meint er und bedankt sich mehrere Male.

Ich verstaue mein Handy wieder im Rucksack und gehe weiter, in eine andere Richtung als er, drehe mich noch einmal um, sehe ihm hinterher.

Fremd in Deutschland. Allein. Ohne Geld und Telefon. Auf die Großherzigkeit anderer angewiesen. Ich wünschte, ich hätte ihm wirklich helfen können…

2 Gedanken zu „Menschen 11“

  1. … auf meiner Schleimspur 😉
    Aber ich lese öfter deinen Blog. Und mir ist es ein Rätsel aus welch „banalen“ Themen man so tiefgründige Gedanken ziehen kann, und wie man dafür auch noch so schöne Worte finden kann wie du. Ich bin vor Neid so grün wie deine Website ;))

  2. REPLY:
    Keine Angst, ich rutsche nicht aus, freue mich aber über deine Worte.
    Ich glaube, es genügt, mit offenen Augen durchs Lebens zu gehen und hin und wieder Fragen zu stellen.
    Im übrigen ist mir dein Weblog auch nicht unbekannt und ich verweile ganz immer mal wieder dort…

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