Menschen 6

Die Fläche der Fahrstuhlkabine umfaßt etwa 1,5 x 2 Meter. Ich steige ein, grüße höflich das ältere Ehepaar, das sich bereits in der Kabine befindet. Sie beginnt zu reden. Sie flüstert, unendlich leise, die heilige Fahrstuhlstille nicht verletzen wollend. Er brummt zustimmend.
Ich verstehe jedes Wort.

Menschen 5

Alte Menschen, die lauthals und kopfschüttelnd über die angebliche Langsamkeit der Kassiererin schimpfen – und sich kurz zuvor freiwillig in die offensichtlich längste Kassenschlange stellten.

Eine Jugendliche, mit einer olivgrünen Jacke bekleidet, auf der sie in krakligen Filzstiftbuchstaben ihre Englischkenntnisse kundtut:
„Punks not death.“

Naturbeobachtungen im Großstadtdschungel

Weil es mir heute wieder in Erinnerung gerufen wurde, mal was „Altes“, vom 10. Juni 2004:

„Back To Nature | Where We Can Be | Faster, Harder, Wild And Free!“

Diesen wahrhaft tiefgründig-historischen Satz brüllten einst die drei (vermutlich maskulinen) Wesen einer von mir nicht wirklich geschätzten deutschen Pseudo-Techno-Combo, deren Werke man vermutlich nur instrumental und unplugged über sich ergehen lassen kann, zu einigermaßen erträglichen Klimperklängen des beliebten Miss-Marple-Schwarz-Weiß-Krimis „16 Uhr 50 ab Paddington“ und bewiesen damit schon 1995, daß der Mensch den unkontrollierbaren Drang verspürt, sich Naturellem zu widmen.

Doch wohin soll ein Großstädter sich wenden, wenn der Drang ihn überwältigt, wohin soll sein Grün suchendes Auge blicken, wohin seine Waldboden-ersehnenden Füße laufen? In den Stadtpark, wo Stille längst zu den zur Neige gehenden Rohstoffen des Erdenrunds gezählt werden kann, weil nicht nur lärmende Kinder, nicht nur klackende Nordisch-Geher, nicht nur aufzupustende Heißluftballons und fernsteuerbare Minitrucks jeglichen Hauch von Idylle rauben, auf den Boden schmettern und mit inbrünstigem Haß darauf rumtrampeln, sondern wo auch jeder grüne Quadratmeter vom Plastikbunt gedankenlos „vergessener“ Lebensmittelverpackungen, von flatternden Farben herrenlos durch die Gegend fliegender Einkaufstüten und den unappetitlichen Folgen der Einführung der Einweg-Windel besudelt und verseucht wurde? Sollte man gar wirklich, um dem Auge ein wenig Natur zu gönnen, kilometerweite Autobahnfahrten auf sich nehmen müssen und somit nicht nur die letzten Reste längst kultivierten Pflanzenwuchs mit schä(n)dlichen Autogasen zusätzlich zu belasten, sondern den eigentlichen Natur-Genuß um den allgemein üblichen An- und Abfahrtsstreß bereichern? Wohl kaum.

Meist bleibt dem in tristem Betongrau Wohnhaften nichts anderes übrig, als sich der wenigen Bäume zu erfreuen, welche von ABM-Kräften des städtischen Grünnflächenamtes unlängst entlang einzelner Straßen aufgestellt wurden, um den begehrenden Blicken zumindest ein wenig Abwechslung bieten zu können. Doch was muß ich erblicken, versuche ich mich diesen Mini-Oasen zu laben, deren Grundfläche durch die allgegenwärte Gehwegbepflasterung auf knapp drei Quadratmeter radikal begrenzt wurde? Gar Schreckliches!

Das Grünflächenamt gibt sich alle Mühe, das ohnehin stark behinderte Wachstum der Straßenpflanzen zusätzlich zu erschweren, indem alljährlich Äste und Zweige, ja ganze Baumstämme, die möglicherweise im Laufe ihres Wachstums in naher oder ferner Zukunft unter Umständen in einigermaßen absehbare Nähe eines Hauses oder eines Straßenschildes kommen könnten, brutal entfernt, abgesägt und zerschreddert werden. Überall sehe ich sie, die Verstümmler, wie sie den geplagten Pflanzen Körperteile abtrennen und diese herzlos in ihre Zerkleinerungsmaschine werfen. Und zu allem Überfluß werden die drei Quadratmeter, die dem Baum oder Strauch zum Leben gelassen wurden, dann noch mit den Überresten seines eigenen Leibes oder das seiner Artgenossen bestreut, mit niedergemetzelten Stücken noch existierender Gewächse. Wenn ich mich in eine Badewanne setzte, mit lauter Zeigefingern (darunter auch meine eigenen) oder auch nur mit literweise Menschenblut (darunter auch mein eigenes) gefüllt, würde ich als unheilbarer Psychopath gelten. Städtische Pflanzen werden jedoch zu derartigem Schicksal gezwungen. Grausam!

An Grausamkeit jedoch kaum zu überbieten ist der Anblick, den die bereits erwähnten drei Quadratmeter bieten, wenn Herbst und Winter alles wachsende Grün verschlungen haben und nur noch der blanke Boden übrigbleibt. Dieser, so stellt dann sich schnell heraus, ist gar nicht so blank. Vielmehr hatten die ganzen Monate über sämtliche Hunde aus der Nachbarschaft die Gelegenheit genutzt, mehrmals täglich den Baum und dessen minimierten Lebensraum mit ihren Stoffwechselendprodukten zu bepflastern, so daß vom eigentlichen Boden nicht mehr viel zu sehen ist, da dieser einer stinkenden Landschaft aus verwesenden Krümeln und Klößchen weichen mußte. Lecker! An dieser Stelle gilt mein Lob und Respekt zwei Personenverbänden: Zum einen den lokalen FDP-Vertetern, allen voran die wohl häßlichste Frau Magdeburgs, die sich gemeinschaftlich für mehr Hundekotbereinigungsmöglichkeiten einsetzen. Zum anderen preise ich die Grünflächenamtmitarbeiter, deren Aufgabe es ist, in jedem Frühling, mit Arbeitshandschuhen nur umzureichend geschützt, die besagten drei Quadratmeter von sprießendem Unkraut zu befreien…

Doch zurück zu angenehmeren und vor allem tiefsinnigeren Themen. Ich frage mich beispielsweise, ob es an Deutschlands Arbeitsmarktsituation oder einfach nur an der Wichtigkeit der maximalen Auslastung bereits erworbener Geräte liegt, daß die winzigen, in Städten verfügbaren Rasenflächen teilweise mehrmals wöchentlich mit überdimensional großen Gerätschaften und Maschinen bearbeitet werden müssen. Will man einfach nur dafür sorgen, daß die ABM-Kräfte etwas zu tun bekommen oder möchte man gar das bißchen Grün minimieren und somit sichergehen, daß selbiges frei von Leben und lebenden Bewohnern bleibt? Oder möchte man die möglicherweise langschläferisch veranlagten Anwohner durch ständigen Rasenmähermotorenlärm darauf hinweisen, daß hier gearbeitet wird, während man selbst noch in den Federn liegt und nichts für Deutschlands Wohlstand tut? Ich vermag es nicht zu erklären.

Ebensowenig erklärbar ist der im Herbst plakatierte Aufruf, man möge doch das von den Bäumen fallende Laub beseitigen, nicht um die bestehende Rutschgefahr zu vermindern, sondern um irgendwelchen ‚gefährlichen‘ Käferwuchs zu reduzieren. Hallo? Daß Blätter im Herbst von Laubbäumen fallen, halte ich für durchaus natürlich. Wieso muß selbst das noch überwacht und optimiert werden? Wieso erfinden Menschen Geräte wie „Laubsauger“ oder irgendwelche Pustedinger, die einem das Harken abnehmen, indem sie mittels bewegter Luft das trockene Laub vorantreiben? Ist das wirklich nötig?

Geplagt von derlei Gedanken, von der Vorstellung, versehentlich in drei Quadratmeter voller Hundekot zu stolpern, fliehe ich nun doch in den Stadtpark, suche mir ein einigermaßen müllfreies Plätzchen, hole die Cola aus dem Rucksack, reiße eine Tüte Chips auf, stöpsle mir die Kopfhörer meines mp3-Players in die Ohren und beobachte voller Wonne die plumpen Flugmanöver unzähliger Taubenschwärme.

Ich liebe die Natur!

Der morgendliche Wurm im Ohr 15

Ich erwachte heute morgen mit dem untrüblichen Gefühl, daß nicht nur der vergangene Tag ein äußerst angenehmer gewesen war, sondern daß auch der Kommende schön werden würde. Ich fühlte mich wie Urlaub – obwohl ich mir den Wecker gestellt hatte. Aufgaben harrten meiner, doch hatte ich mir für heute nicht Bedrängendes, nichts Unerfreuliches vorgenommen. Und in meinem Schädel erklang ein Liedchen, das mich zu erfreuen wußte:

Bright Eyes – „Haligh, Haligh, A Lie, Haligh“

Emppu

Als ich den Straßenbahnsitzplatz ergattert hatte, wurde mir bewußt, daß es ein Fehler gewesen war, sich hierhin zu setzen. Nicht, weil es unbequem war, nicht, weil unangenehme Menschen um mich herumstanden. Nein, mich störte der Umstand, daß ich nicht in Fahrtrichtung blicken konnte. Dabei war mir egal, ob ich Sicht nach außen hatte. Es bestand auch keine Gefahr aufkommender Übelkeit, wie es bei manchen Zugfahrern verbreitet ist, die sich prinzipiell ans Fenster und prinzipiell in Fahrtrichtung setzen müssen.

Nahezu alle Sitze in dieses Straßenbahnwagons waren in „richtiger“ Richtung angeordnet. Nur meiner nicht. Ich schaute also allen entgegen, konnte gar nicht anders, als alle anderen anzublicken. Ich versuchte, aus dem Fenster zu sehen, doch interessierte mich die falsch herum vorbeigleitende Umgebung wenig. Menschen sind interessanter.

Schnell hatten meine Augen das interessanteste Objekt ausgemacht: Ein junger Mann mit sauber gestutztem Bart und langem, blonden Haar. Der Bart sah komisch aus. Nicht minder komisch wirkten die beiden Nietenarmbänder. Ich habe nichts gegen Nietenarmbänder, doch sie sollten sich in das Gesambild einfügen. Hier wirkten sie aufgesetzt, unnatürlich. Die Kapuzenjacke trug die Aufschrift „Anthrax“, eine Metalband, von der ich zugegebenermaßen nicht viel kannte. Sein schwarzer Armeerucksack war bestückt mit unzähligen Aufnähern. Metallica. Ich seufzte innerlich und ohne Begeisterung. Die schwarze Wollmütze auf seinem Schädel erweckte einen albernen Eindruck.

Er blickte zu mir. Schnell sah ich weg, scheinbar in die vorbeifliegende Umgebung vertieft. Zuweilen ist es gefährlich, allzu neugierig zu sein. Menschen neigen zu aggressivem Verhalten, wenn man sich zu sehr für sie interessiert.

Als ich wieder hinsah, spielte er mit seinem Nietenarmband. Scheinbar war es ihm genauso ungewohnt wie es aussah. Neben mir wurde ein Platz frei. Er setzte sich, starrte mich an, schaute weg, starrte wieder. Freundlich erwiderte ich seinen Blick.

„Wo hast du die Jacke gekauft?“, stotterte er mit erstaunlich piepsiger Stimme und zeigte auf mein Samtjacket. Ich war verdutzt, versuchte mich zu erinnern. „Moment.“, antwortete ich lächelnd, „Gleich fällt es mir ein.“ Im Geiste begann ich zu hoffen, daß ich das Jacket nicht in H&M oder einem ähnlich uninteressantem Laden erworben hatte.

Dann erinnerte ich mich: „In einem Second-Hand-Store in Halle.“ Das klang gut. Alternativ. Das übergroße C&A-Schild, das ich nach dem Kauf hastig von der Innentasche entfernt hatte, erwähnte ich nicht.
Er nickte mir zu. „Sieht gut aus. Wie Emppu. Von Nightwish.“

Ich zuckte mit den Schultern, wußte nicht, ob mich nun freuen sollte oder nicht. Nightwish. Nun ja. Kenne ich, mag ich nicht. Emppu? Keine Ahnung, wer das ist.

Noch während ich nach einer Antwort suchte, hielt die Bahn. Ich sah aus dem Fenster, stand auf.

„Hier muß ich raus.“, sagte ich und floh.


[Emppu]

Erkannt

In fremder Person erblicke ich eine andere, betrachte sie, erkenne sie aus zukünftigen Erinnerungen, mag sie, schenke ihr ein Lächeln, als wüßte ich.
Einzig ihr Gesicht stimmt nicht, stört, scheint falsch, gehört nicht zum Leib, den zu kennen ich glaube, gehört nicht zu meiner Erinnerung.
Mein Lächeln trifft nicht ein, erweckt ein kaltes Schweigen.

Gespräch

Ich versuche, dir nicht zuzuhören, mich woandershin zu denken. Ich wollte dich nicht treffen, nicht sehen, keinesfalls hören. Dein Mund speit Wissen, fades Besserwissen. Ein hohler Bach plätschert zwischen deinen Lippen hervor, kennt alle Antworten, löst alle Rätsel. Ich hüte mich zu fragen, rede, ohne zu meinen. Wäre ich hier, wäre ich falsch.

Dicke Bäuche und blaue Augen

Als ich heute die Freundin einer Freundin sah, mußte ich feststellen, daß sich ihr Bauchumfang seit unserer letzten Begegnung erheblich vergrößert hatte. ‚Ist sie etwa schwanger?‘, wunderte ich mich. Doch ich schwieg, wagte nicht, die Frage an sie persönlich zu richten.
Denn sich bei einer Frau zu erkundigen, ob sie schwanger sei, obwohl sie es nicht ist, kann für den Neugierigen durchaus schmerzhaft enden.
Ängstlich verhüllte ich meine Frage mit Stille.

Wieder was gelernt

Heute war ich inkonsequent.

Prinzipiell neige ich dazu, McDonalds und BurgerKing zu meiden, nicht zuletzt weil ich deren Eigentitulation als „Restaurants“ übertrieben euphemistisch finde. Hinzu kommt, daß ich in den Filialen weder geschmacklich noch sättigungstechnisch überzeugt werden kann, da spätestens nach einer halben Stunde der angeblich verdrängte Hunger zurückkehrt .

Was mich jedoch am meisten stört, ist der viele Müll, den jeder einzelne Konsument produziert. Ich schämte mich nach jedem Verzehr fastfoodiger Mahlzeiten und beschloß eines Tages, in Zukunft weder zu BK noch zu McD zu gehen.

Heute jedoch war ich inkonsequent, brach meinen Beschluß, den ich mehrere Monate lang über aufrechterhalten hatte. Doch ich hatte Hunger, wirklichen Hunger. Hunger, der nicht durch die verbleibenden drei Toastbrotscheiben in meinem Regalfach gestillt werden konnte. Hunger, der auf der Stelle versorgt werden wollte.

Ich ging also zu McDonalds. Die Filiale war voll von pinken Punks. Kaum hatte ich mein Essensimitat erhalten, suchte ich eine abseits gelegene Ecke. Das sich auf meinem Tablett befindliche Blatt bot während des In-den-Mund-Schaufelns nur wenig Unterhaltunsgwert. Einzig die Rückseite vermochte es, mich ein wenig zu fesseln, war doch dort eine riesige Tabelle abgedruckt, aus der hervorging, wieviel Kilokalorien, Fett und Kohlenhydrate jedes einzelne McD-Produkt besaß.

Ich stellte also fest, daß ich während der Lektüre mehr als 1000 kcal zu mir nahm. Leider konnte ich diese Zahlendimension nicht einordnen, weswegen mich das weder beeindruckte noch schockierte. Auch als ich ausgerechnet hatte, daß soeben exakt 50 Gramm Fett in meinen Magen gewandert waren, war ich wenig überrascht.

Ich trank aus und ging. Ungutes Essen im Bauch. Unnütze Zahlen im Kopf.