Menschen 13

Der Krach in meinen Ohren degradiert die Welt zum Stummfilm. Menschenlippen formen Laute, die mich nicht erreichen. Ich sehe das falsche Lächeln einer Großmutter als Antwort auf das Gestammel ihres Enkelkindes. Es taucht auf, huscht über ihr Antlitz und verschwindet wieder hinter einer faltigen Steinmiene.

Mir gegenüber sitzen zwei ältere Frauen. Ein Fahrkartenkontrolleur kommt vorbei, besieht sich die Tickets, zieht seines Weges. Die linke der beiden schmunzelt verschmitzt. Allein ihr Mund sagt mir, daß ihr Ticket nicht gültig war, ja, daß sie stolz darauf ist, betrogen zu haben.

Die Blicke ihrer Freundin werden derweil von dem Mann neben mir, beziehungsweise von dessen Hund, angezogen. Es ist ein riesiges, dickes, aber schönes Tier, das zum Streicheln einzuladen scheint. Die ältere Dame ist verzückt. Ihre Mundwinkel gleiten nach oben, und ihre Augen leuchten. Würde sie reden, wären ihre Worte niemals so intensiv, so hingerissen wie der Ausdruck auf ihrem Gesicht.

Schräg gegenüber sitzt eine junge Frau, Anfang zwanzig vielleicht. Sie redet mit ihrem Begleiter. Sie hat geweint oder setzt gerade an, Tränen zu vergießen. Ich starre sie an, empfinde Mitleid, würde gern erfahren, was der Grund für ihre Trauer ist. Sie wird sich meines Blickes bewußt und schaut zurück. Ihre Gesichtszüge glätten sich.

Sie hat nicht geweint, wollte vermutlich noch nicht einmal weinen, hat nur so ausgesehen, als wäre sie den Tränen nah, war schlichtweg in ihre Rede vertieft.

‚Erstaunlich, daß ich mich so sehr täuschte.“, wundere ich mich und beobachte erfreut, wie sie zu lächeln beginnt.

Der morgendliche Wurm im Ohr 25

‚Guten Morgen!‘, denke ich mir ironisch, als ich mich die dröhnende Bohrmaschine der Bauarbeiter aus dem Schlaf reißt. In kurzen Intervallen, vielleicht jeweils fünf Sekunden lang, von einer etwa ebenso langen Pause unterbrochen, frißt sich der rotierende Stahl in die Wand, läßt das ganze Haus zittern, wirft den Motorenlärm auf den Innenhof, wo er unzählige Male reflektiert und verstärkt wird.

Ich quäle mich aus dem Bett. Der Wecker schläft noch. Er hat noch eine halbe Stunde Zeit, bevor er seinen Dienst verrichten muß. Unter der Dusche entdecke ich meinen heutigen Ohrwurm:
Howard Carpendale mit „Hello Again„.
Na klasse. Der Tag zeigt sich bereits in seinem schönstem Kleid.

In der Küche finde ich den selbstgebackenen Kuchen vom gestrigen Tage. ‚Lecker‘, freue ich mich und sehe einen Lichtstreif am Horizont.
Doch ich habe noch nicht einmal die Küche verlassen, als der Teller in meiner Hand an einer Stuhllehne hängenbleibt und seinen Inhalt auf dem nicht unbedingt reinlichen Küchenboden verteilt.

‚Och nö.‘
Ich bereinige den Boden vom Kuchenmatsch, nehme mir ein neues Stück und begebe mich – vorsichtig – in mein Zimmer, wo versuche, die bessere Aufenthaltsort-Alternative herauszufinden:
Die Universitätsbibliothek, in deren unmittelbarer Umgebung derzeit gebaut und gebohrt wird, – oder die heimischen Räumlichkeiten, die ebenso mit unerträglichem Baulärm überschattet werden.

‚Mist.‘, denke ich und versuche, mit lautem Metal zumindest den Ohrwurm aus meinem Schädel zu tilgen.

[Im Hintergrund: Ensiferum – „Iron“]

Helden des Alltag

An der Straßenbahnhaltestelle Alter Markt riecht es merkwürdig. Verbrannt irgendwie.

„Sag mal, riechst du das auch?“, fragt mich A.
„Riecht nach …“
„Papier.“, unterbricht mich A.
„Papierkorb.“, verbessere ich und deute auf den qualmenden Papierkorb hinter uns.

„Was nun? Sollen wir etwas unternehmen?“, fragt A unschlüssig.
Scheinbar hat niemand außer uns den qualmenden Papierkorb bemerkt.
„Na klar.“, meine ich und denke darüber nach, ob man die Feuerwehr rufen sollte. Doch A hat eine bessere Idee: der Obststand.

„Entschuldigung.“, spricht sie die Verkäuferin an, „Haben Sie vielleicht Wasser? Der Papierkorb brennt.“
A zeigt auf den qualmenden Metalleimer. Passanten gehen daran vorbei, schnuppern, schauen kurz, reagieren nicht. Vermutlich müssen erst meterhohe Flammen emporsteigen, ehe jemandem etwas auffällt.

Die Obsthändlerin verschwindet kurz, kommt zurück, reicht eine Glaskanne mit Wasser.
„Bringt ihr die Kanne dann bitte wieder?“, fragt sie, ein wenig unsicher.
„Na klar.“
„Freiwllige Feuerwehr.“, scherzt sie noch, doch wir sind schon unterwegs, um den Brand zu bekämpfen.

A zielt und schüttet. Vorsichtig; schließlich sollte der gesamte Brand mit einer Kanne Wasser gelöscht werden.

Der Krug ist halbleer, als sie abläßt. Es schwelt noch immer ein wenig, doch keine Flammen sind mehr zu sehen. Ich erkenne einen Fahrplan oder ähnliches, der noch immer vor sich hin schmort, und ziehe ihn tapfer heraus. Hastig, potentielle Flammen fürchtend, werfe ich das Papier zu Boden und tilge auch die letzten Reste des Brandes.

Während A die Kanne zurückbringt, entsorge ich den angeschmorten Fahrplan erneut.

Anschließend sehen wir uns an und sind uns einig:
Helden wie wir sind rar inmitten der erblindeten Menschenmassen.

Gesprächsfetzen 2

„Nicht immer nützt es, die Augen davor zu verschließen.“
„Vor allem nicht vor Pupsen.“

[Im Hintergrund: Clueso – „Die Lauten Stinken Nicht“]

Was ist ein „eal“?

Fährt oder läuft man durch das nächtliche Magdeburg, stellt man, falls man am bahnhofsnahen Einkaufscenter vorbeikommt, fest, daß die verschiedenen Logos und Schriftzüge der einzelnen, im Inneren des Einkaufscenters angesiedelten Läden und Geschäfte in buntesten Farben von der Gebäudefassade herableuchten.

Eine der größten und auffälligsten Leuchtreklamen bildet der „real,-„-Schriftzug, der jedesmal wieder meine fragenden Blicke auf sich zieht.

Der Grund dafür ist nicht in dessen Schönheit oder in meiner Liebe zu dieser Supermarktkette zu finden, sondern einzig und allein in der schlichten Tatsache, daß in der Dunkelheit dem „real,-“ das R fehlt.
Die Neonleuchten innerhalb des ersten Buchstabens versagen ihre Dienste – seit Monaten schon. Niemand scheint es zu bemerken, niemaden scheint es zu stören.
Nur ich wundere mich jedesmal wieder:

Was ist ein „eal“?
Gibt es dieses Wort in der Sprache Shakespeares überhaupt?

Heute fiel es mir wieder ein, heute erinnerte ich mich meiner fragenschweren Gedanken.
Was ist ein „eal“?

LEO liefert diesbezüglich keinerlei Ergebnisse, was mich doch ein wenig betrübte.
Daß man „eel“ normalerweise mit „Aal“ zu übersetzen pflegt, interessierte und tröstete mich dabei wenig.

Wer weiß alles? wikipedia, natürlich.
Und tatsächlich wurde ich fündig:

EAL als Abkürzung bedeutet
English as an additional language.
Eastern Airlines.
oder
Evaluation Assurance Level.
[Zu letzterem findet man auch eine hübsche Erklärung bei der deutschen wikipedia-Seite.]

Alles in allem kein sonderlich befriedigendes Ergebnis, wie leicht einzusehen ist. Enttäuscht überlegte ich, ob ich das Vorhaben, in die schlichte Tatsache eines fehlenden unbeleuchteten Rs etwas Bedeutsames hineinzuinterpretieren, aufgeben sollte.
Einen Versuch wollte ich noch wagen.

Wer weiß noch alles? Google, natürlich!
Und hier wurde ich schnell fündig.

Denn EAL ist, wenn man dieser Seite Glauben schenken darf [und das will ich durchaus] eine Abkürzung für die
Europäische Antikapitalistische Linke.

Dabei handelt es sich um einen Zusammenschluß verschiedener linker, europäischer Parteien [Vertreter Deutschlands: die DKP], die „in vollständiger Opposition“ zur „prokapitalistischen und proimperialistischen Orientierung“ der zu einem „supranationalen imperialistischen Staat“ anwachsenden Europäischen Union [EU] stehen.
[Quelle]

Na also!
Eine durchaus profitorientierte, deutschlandweit vernetzte Supermarktkette bewirbt nachts heimlich antikaptialitsische Bewegungen. Wenn das nichts ist.

In meinem Kopf beginne ich schon mögliche Verschwörungen aufzudecken, die nicht nur europaweit, sondern weltweit ihre Wurzeln haben.
Ich würde mich nicht wundern, wenn die Illuminaten dabei ihre Finger im Spiel haben, wenn ich eines Morgens erwache und feststelle, daß „eal“ nichts anderes bedeutet als „23“…

Ich höre jetzt lieber auf zu schreiben, bevor sie mir auf die Schliche kovdmslk,csedwe,,,,,,,,,,,,,,

Eine Bitte & ein Statusbericht

Obgleich sicherlich zu vermuten ist, daß es zu nerven beginnt, möchte ich noch einmal flehentlich darum ersuchen, den lustigen Opera-Button

[auch unten rechts auf der Seite befindlich]
immer wieder mit fröhlichen Klicks zu versehen, um mir einen klitzekleinen Gefallen zu tun.

Der aktuelle Status liegt übrigens bei exakt
204 Klicks,
was bedeutet, daß es nur noch 46 weiterer bedarf…

Nochmals Tausend Dank.

Mein Poesiealbum-Trauma

In Anlehnung an einen Eintrag bei Nadine in Berlin verfaßte ich folgende Worte, die ursprünglich als Antwort auf ihre Frage nach meinem möglicherweise vorhandenen Poesiealbum-Trauma gedacht war.

Ich gebe zu, sowohl mein eigenes Poesiealbum, als auch die, in die ich einst schrieb [inklusive meiner eigenen Einträge], waren schrecklich. Doch das tut nichts zur Sache.

Sammelt man gute Aphorismen, stellt man fest, daß unglaublich viele von ihnen mit stets neuen, anderen schönen Worten das Alte, Gleiche umschreiben. Vielleicht vermögen sie etwas zu ändern. Bei dem/der Richtigen. Doch darum geht es nicht. Es geht darum, daß ich immer wieder Definitionen sehe, was Freundschaft, Liebe, Hoffnung, Glück etc. in Wirklichkeit ist.

Hoffnung heißt, den Regenbogen in den eigenen Tränen zu sehen.
Habe ich mir gerade ausgedacht. Spontan. Das kann jeder.

Deswegen ist also ein Aphorismus, bloß weil ein berühmter Mensch ihn geschrieben hat [oft noch nicht einmal Autor oder ähnliches – in Zitatbüchlein entdeckte ich auch derartiges von ehemalgen Sportlern und Fernsehmoderatoren], nicht zwangsläufig gut. Und nützlich schon gar nicht. Wenn mich die Tausend anderen Sprüche nicht überzeugen konnten, kann es der eine, neue auch nicht.

Hinzu kommt, daß die „Weisheit“ sehr oberflächlich ist. Vieles sieht so aus, als sollte es hinterfragt werden, doch stellt man genug Fragen, vermag auch die Wortaneinanderreihung nicht mehr Antwort zu geben. Sie idealisiert hoffnungslos, dramatisiert, übertreibt, malt mit einfachen Mitteln Normales, Offensichtliches in Bunt.

Wenn ich Menschen – wie meine Mitbewohnerin – kennenlerne, die auf derartiges viel geben, frage ich mich stets, warum. Schließlich ist das Wichtigste, den Inhalt dieser Sprüche selber zu erleben, zu begreifen, am eigenen Leib zu erfahren. Sie einfach zu lesen, reicht nicht. Sie in andere Worthüllen umzutopfen, erst recht nicht.

Fatal wird es, wenn Sprüche aus umfangreicheren Werken entrissen werden, wenn bestehende Zusammenhänge verdreht, verformt oder gar vergessen werden, wenn man einen Satz von Kant zitiert, weil er gut klingt und weil es noch besser klingt, wenn „Kant“ drunter steht, ohne daß die Gesamtheit der Bedeutung wirklich erfaßt oder erwähnt wurde.

Jeder stellt sich beim Lesen von Worten etwas anderes vor; deswegen gibt es vielleicht auch in Büchern keine endgültige Wahrheit. Vielleicht kann man auch die wahre Intention des Autors niemals völlig erfassen. Das gibt aber niemandem das Recht, dessen Werke zu zerstückeln, um sie albernen Zitatebüchlein einzuverleiben.

Lese ich Aphorismen, so fällt es mir schwer, sie nicht sofort zu ignorieren. Mnachmal denke ich, daß der Autor schöne Worte gefunden habe. Manchmal erfreue ich mich des angenehmen Nachhalls in meinem Schädel.

Doch leider wohnt den Sprüchen der scheinbare Anspruch inne, tiefergehende Weisheiten zu bergen. Das ist aber in den wenigsten Fällen tatsächlich so. Oft werden nur simple Erkenntnisse schön verkleidet. Zuweilen sind auch die unterzeichenden Namen schöner als der Spruch selbst. Und das stört mich ein wenig.

Noch mehr stört mich allerdings, wenn jemand zu zitieren beginnt, wenn jemand einen Aphorismus von erwähntem Kant in die Runde wirft und mir noch nicht einmal zu sagen vermag, aus welchem seiner Werke die Zeile stammt; wenn er sich mit Dingen brüstet, die sich hinterfragend darstellen, aber, werden sie selbst hinterfragt, nur Leere hinter sich wissen.

Einst, um meiner Mitbewohnerin ein Geburtstagsgeschenk zu kreiieren, haben mein Mitbewohner und ich uns die Mühe gemacht, ein eigenes Zitatebüchlein zu basteln. Dazu sammelten wir allerhand Nonsens-Sprüche, dachten uns alberne Autorennamen aus und fügten alles zusammen. Das Ganze sollte ihre Zitatesammlung auf liebevolle Weise verhohnepiepeln [Dieses Wort ist toll.].
Um Inspiration zu erhalten, wälzten wir diverse Aphorismenbücher. Mehr als die Hälfte aller Sprüche hätte man ohne weiteres in unser lustiges Veralberungsbüchlein übernehmen können. Sie wirkten tatsächlich zumeist lächerlich oder langweilig.

Das heißt jedoch nicht, daß ich etwas daegegen habe, Sprüche und Aphorismen zu sammeln oder irgendwelche Werke zu zitieren. Derartig agiere ich ja zuweilen selbst ganz gerne. Doch suche ich nicht die tiefste aller Weisheiten und vermag auch noch immer den Zusammenhang zwischen der herausgerissenenen Zeile und ihrem Umfeld herzustellen, selbst wenn es niemanden interessiert.

Will sagen: Jeder handle, wie er/sie wünscht, doch sollte dabei im Hinterkopf behalten werden, daß eine simple Aneianderreihung von Worten – und sei sie noch so schön und bezaubernd – niemals genügt, um die Vielfalt des Lebens beschreiben zu können.

Straßenbahnerlebnisse 8

Auf dem Zweierplatz für körperlich Benachteiligte sitzt eine ältere Frau mit blond gefärbtem Haar, wegen des Nieselregens mit einer Plastikhaube bedeckt, die aussieht wie ein Kopftuch.
„Ich denke gerade über die Diskussion in Bayern nach.“, meint M zu mir. „Kopftuchverbot und so.“ Ich grinse.

Die Frau ist bemüht, den Sitzplatz zu wechseln, will vom Fensterplatz zum Gangplatz rücken. Das sind zwar nur wenige Zentimeter nach links, doch strengt sie sich dabei sichtlich an, stützt sich auf ihre Krücken und keucht. Ich überlege, ob ich aufspringen, ihr helfen sollte. Doch dann hat sie es geschafft, sitzt schwer atmend auf dem gewünschten Sitzplatz.

Die Bahn hält, Menschen steigen ein. Unter ihnen auch ein Rentnerehepar. Der Mann benutzt eine Gehilfe, visiert den freien Platz neben der Keuchenden an. Er geht wacklig, wird von seiner Frau dorthin geleitet, läßt sich in den Stuhl fallen.

„Die Frau ist zwar auch benachteiligt, hat aber noch beide Hände.“, meint die Rentnerin zu ihrem Mann. Der sagt nichts, doch die Sitzende antwortet:
„Jaja. Aber richtig zufassen kann ich auch nicht.“
„Aber mein Mann erst recht nicht. Er ist gelähmt.“ Sie lacht: „Hahaha.
Sie nickt zu dem Angesprochenen. „Nicht wahr? Hahaha. Nach einem Schlaganfall. Hahaha. Wir fahren jetzt gerade wieder zur Therapie. Hahaha.“

Sie lacht immer wieder, kurz, stoßweise, als wäre das Erzählte irgendwie amüsant. Nicht nur, daß es so wirkt, als versuche sie, den „Wer hat die schlimmsten Gebrechen?“-Wettbewerb für sich bzw. ihren Mann zu entscheiden, auch, daß sie in das Larifari-Gespräch an reichlich unpassender Stelle ihr Gelächter einfügt, verwundert mich.

Ich steige aus und werde dabei beinahe von einem Auto überrollt.
Hahaha.